Ensembleszene des CCN Aterballetto in „Notte Morricone“ von Marcos Morau auf den Ruhrfestspielen 2025 in Recklinghausen.

Fragile Romantik

Marcos Morau: Notte Morricone

Theater:Ruhrfestspiele Recklinghausen, Premiere:24.05.2025Musikalische Leitung:Maurizio BilliKomponist(in):Ennio MorriconeEinstudierung:Marcos Morau

Marcos Morau verwandelt Recklinghausen bei den Ruhrfestspielen 2025 in ein fiebrig choreografiertes Nachtlabor. Zwischen Kreidestaub, Western-Schatten und scharf getakteter Tanzsprache wird der kreative Wahn des Komponisten Ennio Morricones erzählt – vom fragilen Mundharmonikaseufzer bis zum lauten Trompetenlauf, größer als das Leben inszeniert und doch irgendwie nah.

Ein leises Brummen liegt noch im Saal, das Publikum sortiert sich – da zieht einen schon der Sog dieser anbrechenden Bühnen-Nacht hinab. Eine rußschwarze Wand voller Kreidefetzen grenzt die Bühne ab; Technik-Team, das noch Kabel schiebt, eine Schwanenhals-Lampe pendelt über den Köpfen der Zuschauenden wie ein ungeduldiger Suchscheinwerfer. Man hört das Kratzen eines Stifts, Worte sprießen in Weiß: „Roma“, „musica“, „silenzio“ – daneben eine gezeichnete Klaviatur, ein hastig skizziertes Schachbrett. Kaum ist der letzte Platz eingenommen, kippt das Licht – „Notte Morricone“ (zu Deutsch: „Morricone-Nacht“) hat begonnen.

Fiebriges Klanglabor

Marcos Morau komponiert – passender lässt es sich kaum sagen – für die CCN/Aterballetto-Tänzer:innen eine fiebrige Hommage an Italiens Filmmusik-Giganten Ennio Morricone. Maurizio Billi bündelt Motive aus „Giù la testa“, „The Mission“ und „Cinema Paradiso“ zu einer dichten Toncollage, die Alex Röser Vatiché und Ben Meerwein elektroakustisch aufrauen. Choräle knistern, eine Mundharmonika jault, plötzlich ein Versatzstück von Beethovens „Für Elise“: Traumlogik im Taktwechsel. Moraus typische Bewegungsgrammatik antwortet im Hochdruck-Stakkato: Die Tänzer:innen – weißes Hemd, Träger, graue Bügelfalten, dickrandige Brillen (Kostüm: Silvia Delagneau) – wirken wie geklonte Nachtarbeiter eines genialen Geistes. Gelenke klappen im rechten Winkel, Handgelenke peitschen, als seien die Körper Filmstreifen, die im Projektor ruckeln. Doch das 14-köpfige Ensemble führt dieses anspruchsvolle Bewegungsvokabular mit fließender, beinahe müheloser Diktion aus – eine Signature-Speed-Choreografie, wie man sie von Morau kennt.

Abhörszene des CCN Aterballetto in „Notte Morricone“ von Marcos Morau auf den Ruhrfestspielen 2025 in Recklinghausen.

Abhörszene des CCN/Aterballetto. Foto: Christophe Bernard

Ein erstes, fast eingefrorenes Standbild vor einem retro-silbernen Röhrenradio gibt den Puls vor: Zwei Männer balancieren über einem Gewirr aus bunten Kabeln, ein Mikrofon schnappt jedes Zucken auf – hier wird Klang körperlich destilliert. Minuten später erstickt das Ensemble Morricone förmlich in Mikrofonarmen; ein anatomisches Klang-Verhör, das auf die Obsession des Perfektionisten anspielt.

Trotz der beeindruckenden Bilderflut zeigt sich eine Schwäche: Choreografisch wird nur ein Narrativ verfolgt, sodass die Szenen hin und wieder in ähnliche Muster zurückfallen – eine Monotonie, die allerdings von den ständig neu arrangierten Requisiten geschickt kaschiert wird. Moraus viele Wechsel verhindern, dass diese Dichte erdrückt, doch sie glättet sie nicht völlig. Zwischen den dichten Blöcken gleiten Soli und Duette heraus, zeichnen weiche Kurven über die scharfkantige Grundform – wohltuende Lichtungen in einer Choreografie, die bisweilen an ihrer eigenen Überhitzung kratzt.

Die Handpuppen im Western-Look.

Das Puppenspiel im Western-Look. Foto: Christophe Bernard

Kreidekino auf Faltwand

Bühnen- und Lichtdesigner Marc Salicrú lässt die schwarze 3-teilige Wand dauernd mutieren: Aus flüchtigen Kreidekritzeleien wachsen Partiturfragmente, bis sich ein überlebensgroßes Western-Porträt Clint Eastwoods herauslöst – Morricones Blick auf die weite Kinoleinwand, in den Rollkinositzen davor. Auf derselben Spielfläche marschieren Mini-Marionetten mit Sombreros zum „Spiel mir das Lied vom Tod“-Thema auf: Puppentheater trifft Italo-Western, ironisch überdreht aber künstlerisch relevant.

Zwischendrin funkt der Schach-Tisch wieder auf, den Morricone – 2020 in Rom verstorben, begeisterter Hobbyspieler – im echten Leben nie weit von sich rückte: ein stummes Remis zwischen Strategie und Intuition. Diese Kuriositäten öffnen Seitentüren in den Nachttraum, doch ihre Häufung lässt die Wiederholung an Wirkung verlieren – ein kalkuliertes Risiko, das das Stück bewusst eingeht.

Das CCN Aterballetto vor der imaginierten Kinoleinwand in „Notte Morricone“ von Marcos Morau auf den Ruhrfestspielen 2025 in Recklinghausen.

Das Ensemble vor der imaginierten Kinoleinwand. Foto: Christophe Bernard

Wenn der schwarze Flügel zum provisorischen Grab wird, Notenständer klirrend auf den zu Boden sinkenden Komponisten krachen und rote Rosen als einziges Farbsignal die Bühne dekorieren, lodert überdosierte Theatralik mit Hang zur idealisierten Romantik. Die Trompete als Gewehrlauf – ein Echo auf Morricones Vater Mario, der „die Waffe Musik“ früh in die Hand seines Sohnes legte. Das Bild führt die militante Seite des Klangarchitekten auf einen Punkt.

Abschied in Dur

„Sag mir, wie viele Menschen in mir leben, dass Musik eine Waffe sein kann“ – solche Voiceover hallen durch den Saal. Brillen fallen, Hosen werden auf links gedreht und Morricone wird kurz entblößt, minimal das Genie-Klischee hinterfragt, um gleich wieder mit opulenter Geste gefeiert zu werden. Moraus Nacht ist kein Ort für nüchterne Distanz, sie taumelt zwischen Bewunderung, Kitsch und kalkulierter Übersteuerung – und genau darin kann sie berühren. Wenn zum Schluss „Rest forever here in our hearts“ gehaucht wird, kippt das Spektakel in stille Dankbarkeit und seine Musik hält die Bühne weiter wach, ganz ohne die Krücke der Leinwand.