Konversationsstück und mehr
Erst später berichtet er von einem bald tödlichen Tumor im Kopf – und wünschst sich, dass seine Tochter zu ihm zieht. Er wohnt in einer bewachten Wohnanlage. Seine Tochter Helen dagegen, von ihm bald als „Püppchen“ tituliert, hat in den letzten Jahren den direkten Kontakt mit dem Vater gemieden. Sie arbeitet sozial engagiert als Anwältin und wohnt mit ihrem Mann, einem Schwarzen, in einem Stadtteil, der – in jeder Beziehung – am anderen Ende der Stadt liegt. Helen bringt dem Vater nun zweimal widerwillig Einkäufe und wird dann durch einen Fehlalarm in der Hochsicherheitswohnung festgehalten, weil sich sämtliche Rollläden und Türen um die Behausung schließen. Endlich hat Richard die Tochter an sich gebunden, zumindest für ein paar Stunden.
„Blind“ ist ein well-made Konversationsstück, in dem die Hass-Liebe zwischen (Einzel-)Kind und verwitwetem Vater wie in einem Ibsen-Drama entrollt wird – ohne dass es die ganz große Katastrophe in der Vergangenheit gegeben zu haben scheint. Dabei gelingt es der Autorin über Familienkonflikte hinausgehende Fragen der Gegenwart organisch einzufügen. Richard ist ein selbstgewisser Patriarch, der sich in seiner Gated Community verschanzt und in seinen letzten Monaten eigentlich nur noch seine geliebte, widerspenstige Tochter um sich haben will. Und er ist ein so klarer wie gefühlloser Vertreter des sozialen Darwinismus. Helen dagegen steht für eine jüngere und in ihrem Fall auch privilegierte Generation, die soziale Chancengleichheit als oberstes Gebot proklamiert und zu leben versucht. Sie vermeidet familiäre Nähe und meint sich für die Menschheit als große Familie entschieden zu haben.
Elegant auf den Punkt
Bei dieser großen thematischen Aufstellung von „Blind“, bei der Metapher und konkretes Beispiel ineinanderfließen, ist es konsequent, dass die Inszenierung dieses Kammerspiels auf der großen Bühne des Residenztheaters stattfindet, zumal mit Juliane Köhler und Manfred Zapatka zwei große Schauspieler agieren. Die Bühne (Fabian Liszt) bietet vor einer hohen und breiten Milchglaswand nur einen Stuhl als sparsame Einrichtung: kein gemütlicher Ort, der im zweiten Teil – wenn die beiden gleichsam eingeschlossen sind – durch den vor der Wand herabgelassenen Eisernen Vorhang noch düsterer und enger wird.
Manfred Zapatka spielt einen wachen und doch müden, selbstmitleidigen alten Mann; er wirkt weich und teilt dann wieder spitz aus. Die elegante Kleidung verbindet Vater und Tochter (Kostüme: Alfred Morina). Und auch in ihrem Spiel ist Juliane Köhler eher eine elegante als eine kratzbürstige Aussteigerin. So zielt Matthias Ripperts Inszenierung als Psychodrama unter Gleichen insgesamt eher auf die grundsätzlichen Konflikte dieser zwischen Enge und Distanz pendelnden Beziehung. Als Eingeschlossene haben sie die ganze Breite der Bühne als Spielraum und kommen sich im Sitzen auf dem Boden ein wenig näher. Auch der Dialog am Ende des Stücks eröffnet im zurückhaltenden Beisammensitzen dieser eingefahrenen Beziehung Chancen für die Zukunft: „Richard: Das bedeutet, dass es Hoffnung gibt, oder? /Helen: Wenn wir was daraus machen, ja.”
Ein offenes, zuversichtliches Ende. Das unaufwendige und vielschichtige Stück wird nach der Uraufführung durch die Autorin in den Niederlanden und nach dieser deutschsprachigen Erstaufführung in München Karriere machen.