Mit falschem Autor auf richtiger Fährte
In der Zwischenzeit war nämlich Werner Herzogs Film „Family Romance, LLC“ herausgekommen. Darin wird ein überaus ausgefuchstes Spiel mit Fakt und Fiktion, Original und Fälschung getrieben. „Family Romance, LLC“ gibt sich als Dokumentarfilm über eine japanische Firma aus, in der man Schauspieler mieten kann, die je nach Bedarf für kurze oder lange Zeit in die Rolle eines Vaters, Freundes, einer Ehefrau oder Freundin schlüpfen. Was Herzogs Film, in dem alles Inszenierung ist, jedoch noch doppelbödiger sein lässt, ist der Umstand, dass es diese Firma tatsächlich gibt. Seit 2009 kann man sich in Tokio bei ihrem Gründer Ishii Yuichi wirklich Familienmitglieder oder Freunde als Stellvertreter leihen. Die perfekte Illusion und damit nichts anderes als Theater!
Genau diesen Ishii Yuichi warben nun Stockmann/Gockel an, stellvertretend für sie die Reise nach Fukushima zu unternehmen und filmisch festzuhalten. So wurde aus dem Japaner der deutsche Nis-Momme Stockmann, der noch einmal all die Orte und Menschen besucht, die er einst für seine Recherchen aufgesucht hatte: Das Meer, eine Zwischenlagerstätte für atomaren Müll, das Memorial Museum. Oder Wakamatsu Yoko, die Ehefrau des Dichters Wakamatsu Jōtarō, der sich in seinem Werk immer wieder mit den Verwüstungen durch die Atomkraft auseinandergesetzt hatte. Er ist im vergangenen Jahr im Alter von 85 Jahren gestorben. Zehn Jahre sind eine lange Zeit. Was ist geblieben? Was hat sich verändert? Welche Erzählung von dem Unglück hat sich durchgesetzt? Der Stücktitel „Der unsichtbare Reaktor“ bezieht sich nicht nur auf die unsichtbare atomare Strahlung, sondern auch auf die materiellen und immateriellen Spuren der Katastrophe. Der Reaktor wurde rückgebaut, kontaminierte Gegenstände in der Erde verscharrt, Erinnerungen haben sich gewandelt, wurden verdrängt, vergessen oder sind mit dem Tod der erinnernden Person verschwunden.
„Wie erzählt man von der Katastrophe?“ Noch dazu als Deutscher, womöglich gar als eine Art schaulustiger Tourist. Dies war die Frage, die Nis-Momme Stockmann lange lähmte. In der Nürnberger Inszenierung seines Stücks, bei dem Jan-Christoph Gockel Regie führte, ist ein starkes, hochkonzentriert spielendes Quartett bestehend aus Julia Bartolome, Moritz Grove, Llewellyn Reichmann und Raphael Rubino zu sehen, das in vier Versionen den Dramatiker verkörpert. Alle vier stellen in der Stockmann-Rolle diese Frage zu Beginn der Aufführung. Verzweifeln, weil es anscheinend nur die Wahl zwischen „verharmlosend“ oder „hysterisierend“ gibt. Bis die beschriebene Stellvertreter-Lösung gefunden ist, und die Zuschauer im Folgenden immer wieder Videos auf Großleinwand schauen, in denen Ishii Yuichi als Stockmann durch die Präfektur Fukushima reist.
Theater als dritter Weg
Die Stellvertreter-Lösung: Sie ermöglichte dem Team Stockmann/Gockel einen dritten Weg zwischen Verharmlosung und Hysterie, indem sie die Ratlosigkeit selbst zum Thema macht. Dadurch ganz grundsätzlich das Theater als jahrhundertealte Illusionsmaschine vorführt und die fundamentale Frage der Repräsentation von Wirklichkeit stellt. Stück wie Inszenierung sind intellektuelles Metatheater und Vexierspiel in Reinform. Das könnte ziemlich anstrengend und enervierend sein, wenn es nicht so verspielt und mitunter sogar sehr komisch auf die Bühne gebracht wird wie hier. Jan-Christoph Gockels langjährige Bühnenbildnerin Julia Kurzweg hat die gute, alte Guckkastenbühne mit angedeuteten Kulissenrahmen wiederbelebt. Dazu gibt es eine Video-Leinwand, umrahmt von einem schweren Goldrand wie bei einem barocken Gemäldeschinken, und allerlei weiteren Bühnenzauber. Das bedeutet aber auch, dass keine Katastrophenbilder von 2011 zu sehen sind. „Der unsichtbare Reaktor“ ist kein Dokumentartheater und will auch keines sein.
Die Inszenierung ist nicht die opulent-überbordende Theatersause, wie man sie schon häufig von Jan-Christoph Gockel gesehen hat. Zuletzt immer wieder an den Münchner Kammerspielen, wo er seit der Spielzeit 2020/21 zum Künstlerischen Leitungsteam gehört. Dass er auch leiser und komprimierter arbeiten kann, beweist dieses Theaterprojekt mit Nis-Momme Stockmann. Es ist nicht zum Schaden der Zuschauer.