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Regie auf Irrfahrt

Rolf Riehm: Sirenen

Theater:Oper Frankfurt, Premiere:14.09.2014 (UA)Autor(in) der Vorlage:HomerRegie:Tobias HeyderMusikalische Leitung:Martyn Brabbins

Ein faszinierender, assoziationsreich schillernder Kosmos: Das ist der erste Eindruck bei der Beschäftigung mit der Musik und mit den Texten von Rolf Riehms neuer Oper „Sirenen – Bilder des Begehrens und des Vernichtens“. Der 1934 in Saarbrücken geborene, seit langem in Frankfurt lebende und viele Jahre dort auch lehrende Komponist hat Text-Versatzstücke und Handlungsvarianten ganz unterschiedlicher historischer und literarischer Provenienz ­– von Homer, aber auch von Karoline von Günderode, dem italienischen Lyriker Giovanni Pascoli oder der Schweizer Reiseschriftstellerin Isabelle Erhardt ­– herangezogen, mit denen er in immer neuen Schleifen Odysseus‘ Abschied von Kirke, seine glückliche Vorbeifahrt an den Sirenen und den Abstieg in den Hades umspielt. Von fern erinnert das an James Joyces „Ulysses“: Der antike Mythos wird nicht einfach wie ein altes Märchen nacherzählt, vielmehr nutzt Riehm ihn für eigene thematische und ästhetische Projektionen, die ihn zur aktuellen Gegenwart hin aufbrechen. Wie in einem Kaleidoskop blitzen Facetten von Handlungen und Bedeutungen auf, werden ein Stück weit verfolgt, verblassen, kehren wieder.

Dieses Verfahren der Textkomposition entspricht sehr genau der musikalischen Struktur. Riehm ist ein undogmatischer Komponist, der alle möglichen stilistischen und strukturellen Versatzstücke – er selbst spricht gelegentlich von „Samples“ – aufgreift, zerlegt und neu miteinander verwebt und verwirbelt. Seine Musik kennt harmonische Klänge und grelle Dissonanzen, tonale Gesten und brutistische Eruptionen, irisierende Gesänge und ratternde Repetitionen, Materialgeräusche und elektronische Klänge, all das fragmentiert zu einem zersplitterten Funkeln und Tönen, welches viel Sogkraft entfaltet. Im Mittelpunkt der Handlung(en) stehen Kirke, eine lyrisch-dramatische Mezzosopran-Partie, sowie Odysseus, der von einem Schauspieler und einem Countertenor verkörpert wird. Die Sirenen treten in achtfacher Gestalt auf und verströmen saugende Kantilenen, außerdem gibt es allerhand Zuspielungen.

Hier, in der Oper, kommen Riehms Allusionen besonders gut zur Geltung. Aufgrund des klanglichen oder gestischen Wiedererkennungswertes all der Fanfaren, Erschütterungen, Wut- und Wahnsinns-Fieberkurven, Lamento-Seufzer oder Tanzrhythmen bekommt die „Sirenen“-Musik eine sehr plastische dramatische Diktion. Man „hört“ sofort szenische Vorgänge, gestische Aktionen, Riehms absichtsvoller Eklektizismus erfährt durch die Gattung „Musiktheater“ eine zusätzliche Motivation. Virtuose Soli der Violine, des Klaviers oder des Akkordeons sorgen zudem für musikantische Attraktivität. Und in einer „Band des Lebens“ benannten Bühnenmusik werden einige Exoten unter den Instrumenten – darunter eine „Singende Säge“ oder vier von Schlagzeugern mit 300-Gramm-Metallhämmern traktierte ein Meter lange Fichtenholz-Bohlen (Partitur-Anweisung: „Die Wirkung muss markerschütternd sein, wie apokalyptische Signale“) – selbst zu Akteuren der Szene.

Mit anderen Worten: Die musikalische Gestalt dieser Oper ist dramatisch effektvoll und unterhaltsam, und der thematische Assoziationsraum reicht von der antiken Mythologie bis in unsere Gegenwart. Man sollte also meinen, dass die Regie hier genug Anknüpfungspunkte für ihre Lesart fände. Wenn aber an der Oper Frankfurt, in deren Auftrag Riehm seine „Sirenen“ komponiert hat, das eröffnende Fortissimo-Tutti erklingt, sehen wir einen Kampf und einen Totschlag, der so weder in Riehms Partitur noch in Homers „Odyssee“ zu finden ist: Ein junger Mann rammt einem Alten den Speer in die Brust. Wer das verstehen will, muss Hesiod gelesen haben (das Programmheft ist hier nur begrenzt hilfreich). Der junge Speerkämpfer nämlich ist Kirkes und Odysseus‘ Sohn Telegonos. Nach der von Hesiod begründeten Telegonos-Überlieferung sendet Kirke ihn aus, Odysseus zu finden, der Sohn aber tötet in Selbstverteidigung den Vater, ohne ihn zu erkennen, und überführt schließlich den Leichnam nach Kirkes Insel Aiaia, wo es eine etwas seltsame Familien-Réunion gibt: Telegonos heiratet Odysseus‘ Witwe Penelope, und Telemachos, Sohn des Odysseus und der Penelope, heiratet Kirke.

Von alledem weiß Riehms „Sirenen“-Oper wenig. Was den Regisseur Tobias Heyder und seine Dramaturgen Wolfgang Willaschek und Mareike Wink aber nicht daran hindert, Telegonos zur dritten Hauptfigur zu machen. Nach der Sohnes-Attacke torkelt Odysseus fortan als Schmerzensmann mit speergespickter Brust über die Bühne, was den Schauspieler Michael Mendl, dessen ausstrahlungsstarkes Spiel man aus zahlreichen Fernsehrollen kennt, in ein schmerzgekrümmtes Dauerchargieren treibt. Und in den Szenen mit der auf Aiaia zurückgelassenen Kirke sehen wir gleichsam in Rückblenden, wie Telegonos vom Baby zum Kind und vom Kind zum Manne reift und sich unermüdlich mit den Waffen übt, so das man fast annehmen könnte, die verlassene Kirke ziehe hier einen Rächer heran. Was das, außer einer unnötigen Verklausulierung des Zugangs für die Zuschauer, zur Deutung von Riehms Oper beträgt, hat sich mir nicht erschlossen. Der weite Assoziationsspielraum aber, den Riehm eröffnet, schnurrt so auf eine überschaubare antike Familiengeschichte für altphilologisch Gebildete zusammen. So begibt sich die Regie auf szenische Irrfahrt.

Entsprechend sind sie Bilder, die wir nach dem Speerkampf sehen, optisch zwar effektvoll, inhaltlich aber seltsam belanglos. Tilo Steffens Bühne zeigt einen atmosphärisch starken, düsteren, mit Treppen-Versatzstücken instrumentierten Raum, Verena Polkowski hat die Figuren in heutige Modekonfektion gesteckt. Die beiden Odysseus-Darsteller leiden in weißem Hemd und dunkler Hose, ohne dass die Regie ein Verhältnis zur Aufspaltung des Helden in Sänger und Sprecher fände. Die Sirenen locken in silbrigen Roben wie vornehme Animierdamen, Kirke barmt im edlen Goldkleid wie eine frustrierte Luxusgattin. Die Videos von Christina Becker verdoppeln bildstark, aber bedeutungsarm das, was Handlung und Bühne ohnehin erzählen, und die Luftakrobatik der Artistin Antje Mertens an einer Stoffbahn in schwindelnder Höhe ist eine zirzensisch atemberaubende, interpretatorisch unerhebliche Leistung. Das sieht gut aus und ist auch gut gemacht, hat aber keine Dringlichkeit. Bilder des Begehrens sieht man an diesem Abend einige, Bilder eines wirklich existenziellen Vernichtens so gut wie keine.

Das ist schade, auch deshalb, weil die Oper Frankfurt mit dieser Uraufführung eigentlich vieles richtig gemacht hat. Sie hat nicht nur Riehm beauftragt und dann machen lassen, sondern auch dafür gesorgt, dass Komponist und Regieteam seit 2011 zusammengearbeitet haben – man muss also annehmen, dass die Aufwertung des Telegonos-Motivs durchaus von Riehm akzeptiert ist. Und die musikalische Qualität der Uraufführung ist maßstäblich. Riehms Musik verlangt einerseits einen effektvollen, gleichsam „musikantischen“ Duktus, der sich auf die Allusionen lustvoll einlässt. Sie braucht aber zugleich eine souveräne strukturelle Disposition, damit sie nicht in Episoden und Effekte zerfällt. Martyn Brabbins balanciert diese beiden Aspekte mit dem animiert musizierenden Frankfurter Opernorchester hervorragend aus. Tanja Ariane Baumgartner singt die Kirke mit gleißender Emphase, der Countertenor Lawrence Zazzo gibt dem Odysseus einen betörend schönen, glockenklar strahlenden Klang, und die acht Sirenen lassen es an vokaler Verlockung gewiss nicht fehlen.

Nach der Premiere musste sich das Regieteam auch Buhs gefallen lassen, der Komponist und die Musiker bekamen langen Beifall und Bravos. Auch mir hat die Uraufführung Lust gemacht, Rolf Riehms neue Oper gleich noch einmal zu hören – dann aber vielleicht doch in einer Inszenierung, die ihr mehr thematische Präzision und Relevanz abgewinnt.