Peter Lohmeyer liest "Die Nacht von Sevilla"

Theater als Spiel

Manuel Neukirchner: Die Nacht von Sevilla

Theater:Ruhrfestspiele Recklinghausen, Premiere:14.05.2024Regie:Bahadir Hamdemir

Manuel Neukirchner hat ein Fußballspiel als Theater-Hörspiel eingerichtet, mit wenig Aufwand und viel Publikumserfolg bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen.

Mit den Mitteln des Dokumentartheaters ist hier ein Fußballspiel auf die Bühne gestellt worden. Nicht mehr, nicht weniger, keine Haltung, keine historische oder andere Einordnung, kein Umfeld. Nur das Spiel vom 8. Juli 1982, die sogenannte „Nacht von Sevilla“ in fünf Akten – vor dem Spiel, erste Halbzeit, zweite Halbzeit, Verlängerung, Elfmeterschießen – und zwei Schlussmonologe von Michel Platini und Toni Schumacher.

Die große Bühne des Festspielhauses ist leer bis auf einen kleinen, mit Mikrofonen bestückten Tisch in der Mitte. Dahinter ein großes Bullauge zur Foto-Projektion. Es ist also eigentlich kein Theater, sondern ein dekoriertes Hörspiel. Der Schauspieler Peter Lohmeyer setzt sich an den Tisch und liest 90 Minuten lang vor. Er setzt die etwa 50 Mitwirkenden des Spiels, vom Vorstopper bis zum Linienrichter, virtuos gegeneinander ab. Für die Fernsehreporter hält er eine Hand vor den Mund, für die Spieler verwendet er oft Dialekte. Karl-Heinz Förster schwäbelt, Breitner ist Bayer, Hrubesch Norddeutscher, Stielicke ist Badener. Das ist einfach und oft witzig. Die Franzosen haben alle einen französischen Akzent. Das nutzt sich ab und wertet sie ab, entindividualisiert sie. Und dadurch sind sie uns ferner als die deutschen Spieler.

Spannendes Spiel

Das Spiel ist trotzdem spannend: 1:0 für Deutschland, in der ersten Hälfte der Verlängerung dann 3:1 für Frankreich, am Ende 3:3 mit dem ersten Elfmeterschießen überhaupt während einer Weltmeisterschaft, dass die deutsche Mannschaft gewinnt. Das Duell von deutscher Kraft und französischer Eleganz tritt im Text aber viel stärker hervor als im Spiel. Da ist der verletzte deutsche Star, Rummenigge, der in der Verlängerung eingewechselt wird – „Oh mon Dieu! Rümmenisch!“, ruft der Staatspräsident Mitterand im Stück und das Publikum lacht –, und Klaus Fischer mit dem Fallrückzieher gegen das Traummittelfeld der Franzosen mit Platini, Giresse und Tigana, das berühmte Foul von Toni Schumacher an Patrick Battiston, viele strittige Schiedsrichterentscheidungen und fast genau so viele Pfosten- und Lattenschüsse. Dieses Spiel im Stück hat durchaus eine eigene Dramatik aufzuweisen. Lohmeyer präsentiert sie exakt und temporeich. Der Text von Manuel Neukirchner schafft es wunderbar, die Worthülsen- und -blasenrhetorik des Fußballjournalismus zu decouvrieren, ohne dass man als Zuhörer daran zugrunde geht, und die Wichtigkeit dieses Spiels auszustellen, fast als „Dritter Weltkrieg“ zwischen Frankreich und Deutschland.

Trotzdem fehlt etwas, etwa die Vorgeschichte, das deutsche Trainingslager in Schluchsee, in dem nicht viel trainiert, aber viel gesoffen wird, die „Schande von Gijon“ – in der Vorrunde schaffen es Deutschland und Österreich durch einen Nichtangriffspakt, dass sie beide weiterkommen und Algerien ausscheidet. Hier sind sie eine Mannschaft, die zusammen kämpft, was historisch höchstens eine halbe Wahrheit ist. Wie überraschend die Franzosen bei diesem Turnier in die Weltspitze geschossen sind, wird sozusagen in einem Nebensatz erwähnt. Wie überlegen die Italiener waren, die das Finale gegen Deutschland 3:1 gewannen, wird nicht gesagt.

Schumacher tritt auf

Zwei Monologe beenden das Spiel. Michel Platini berichtet von dessen Einzigartigkeit in einem offenen Brief in „Paris Match“ und Toni Schumacher spricht vom Foul an Battiston, seinem Verhalten danach, und wie er zum Hass-Objekt für die Franzosen wurde. Diesen Monolog trägt Toni Schumacher selbst vor, verleiht dadurch dem dokumentarischen Spiel eine andere Farbe, wischt die Distanz weg. Plötzlich erleben wir doch noch Geschichte, ein Geschehen, das sich vor 40 Jahren ereignet hat und kein Fußballmärchen ist.

Das Publikum, in dessen erster Reihe Claudia Roth, die Staatsministerin für Kultur und Medien, und Ina Brandes, die Kulturministerin von NRW saßen, das aber sonst – eine im Theater ungewohnte Form – von Männern dominiert war, applaudierte begeistert.