Foto: Eine Welt aus den Fugen: Szene aus „Intolleranza 1960" in der Salzburger Felsenreitschule © Ursula Kaufmann
Text:Regine Müller, am 16. August 2021
Aktualisierung oder Abstraktion? Diese ohnehin elementare Frage wird für die Regie in besonderem Maße bei einem explizit politischen Werk wie Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ zur alles entscheidenden Schicksalsfrage. Denn zu aktueller Gültigkeit wächst ein Werk manchmal eben gerade nicht durch möglichst realistische Aktualisierung.
Regisseur Dietrich W. Hilsdorf übersetzte in Wuppertal vor gut zwei Monaten Nonos vom Tonfall der Empörung getragenes Musiktheater in die unmittelbare Gegenwart zwischen prekärer Arbeit und Container-Elend. Die dicht und schlüssig komponierte Aufführung mit in jeder Gruppe streng reduziertem, auf Pandemie-Abstand bedachtem Personal geriet eindringlich in ihrer Konzentration, der Kontrast zwischen dem hohen, bemühten Ton der Textspur und dem ernüchternden Hyper-Realismus der Szene ließ indes den Verdacht aufkommen, dass das im Auftrag der Biennale von Venedig im dortigen Teatro La Fenice 1961 unter Protesten von Neo-Faschisten uraufgeführte Werk vielleicht doch ein wenig in die Jahre gekommen sei.
Bei den Salzburger Festspielen kommt nun in jeder Hinsicht die Antithese der Wuppertaler Lösung auf die Bühne: Insgesamt 167 Mitwirkende bringen Regisseur Jan Lauwers und Choreograf Paul Blackman auf der riesigen Bühne der Felsenreitschule vor 1388 Zuschauerinnen und Zuschauern in rasende Bewegung. Die Wiener Philharmoniker sitzen im hochgefahrenen Graben, auf den Galerien zu beiden Bühnenseiten ist das üppig besetzte Schlagwerk platziert, die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor mischt sich beinahe ununterscheidbar zwischen die Tänzerinnen und Tänzer von Bodhi Project und SEAD (Salzburg Experimental Academy of Dance), zudem gibt es Zuspielungen über Lautsprecher und all das hält Ingo Metzmacher im Graben mit phänomenaler Präzision in exemplarischer Balance zwischen Überwältigungs-Klängen und kristalliner, ja sphärischer Transparenz.
Jan Lauwers übersetzt Nonos Anklage und die suggestive Hochspannung der Partitur in drängende Bewegungsenergie, die sich im archaischen Setting der Felsenreitschule zu abstrakten Szenen und verstörenden Wimmelbildern fügt. Lot Lemms Kostüme sind zeitlos schlicht. Lauwers lässt die Szene weitgehend leer, sparsam gesetzte Videos – wie etwa die atemberaubende, vierspurige schwarz-weiß Projektion während der Folterszene – verstärken noch den Eindruck der Verdringlichung durch ästhetische Distanz.
Durchaus drastisch setzt Lauwers in vielfachen Variationen die Folterszene in Szene, ohne banale Details auszustellen. Vielmehr gelingt es ihm durch sein hoch virtuos geführtes Bewegungstheater eine Atmosphäre allgegenwärtiger Bedrängnis zu erzeugen: „Intolleranza“ ist überall, Ungerechtigkeit, Armut, Vertreibung und Flucht vor Gewalt oder Naturkatastrophen sind überall.
Zudem führt Lauwers mit einem blinden Dichter eine neue Figur ein, für die selbst er einen langen Monolog schrieb. Sein Sohn Victor Afung Lauwers spielt diesen Blinden als zitternden Mann im weißen Anzug mit eindringlicher Intensität, fordert von der verächtlich lachenden Menge vergebens Empathie ein und diagnostiziert mit bissiger Nüchternheit deren – und unsere? – Gleichgültigkeit gegenüber allgegenwärtiger Not und Unterdrückung.
Das bewusst divers besetzte Sängerensemble mit Sean Panikkar als Emigrant und Sarah Maria Sun als seine Gefährtin, der fabelhaft höhensicheren Anna Maria Chiuri, Antonio Yang und Musa Ngqungwana ist fabelhaft und ohne jede Star-Attitüde, der szenisch und stimmlich maximal beanspruchte Staatsopernchor leistet Außergewöhnliches. Eine exemplarische, wahrhaft festspielreife Produktion. Großer, erschöpfter Jubel, wenige schnell ersterbende Buhs für die Regie.