Foto: Torsten Flassig (l.) und Wolfram Koch als Sohn und Vater Ross © Thomas Aurin
Text:Andreas Falentin, am 16. September 2021
Der Regisseur Jan-Christoph Gockel erzählt unglaublich viel an diesem Abend. Da ist die große, nie ausgesprochene Liebe zwischen Bunny Ross und Paul Watkins und eine Vater-Sohn-Beziehung voll großer Tragik, monströsem Starrsinn und verzweifelter Sehnsucht. Da wird eine geradezu frappierend heutige Gesellschaft von Menschen gezeichnet, die alle verliebt sind ins eigene Narrativ. Und wie nebenbei wird ein Blick geworfen auf amerikanische Industriegeschichte und Ausbeutungsprozesse – ein Lebensthema von Upton Sinclair, dem Autor der Romanvorlage. Dazu geht es, immer wieder und durchaus verwirrend, um Filmproduktion und Filmgeschichte.
Das alles wird mit einer staunenswerten Vielfalt an Theatermitteln aufbereitet. Hier sind unbedingt die Klanggestaltung (Matthias Grübel) und das grandiose Videokonzept (Eike Zuleeg, gemeinsam mit Benjamin Lüdtke auch an der Live-Kamer) zu preisen, die bereits zu Beginn des Abends große Verantwortung tragen. Da sehen wir auf der Leinwand wie später noch mehrmals – den Willy-Brandt-Platz vor dem Theater. J. Arnold Ross, Upton Sinlairs Öl-Tycoon und sein Sohn Bunny fahren mit einem alten Ford vor, möglicherweise zu einer Filmpremiere, wovon der Vater aber nichts zu wissen scheint. Die erste Irritation: ein erzählerischer Rahmen, der mehrfach virtuos gespiegelt wird, etwa im Bild – das Ensemble posiert auf dem roten Teppich vor dem Eingang – oder in manchen Textzeilen. Dann gerät Vater Ross sogar in den Zuschauerraum, ist erst verwirrt, macht dann aber einen Witz, aus dem klar hervorgeht, dass er weiß, wo er sich befindet. Es entstehen erstmal keine klaren Rollenbilder, nur Brillanz und noch mehr Distanz. Und vielleicht geht es genau um die, können diese Figuren nur Figuren sein, wenn sie sich als Beobachter in sicherer Entfernung wissen können.
Akzeptiert man diese Hypothese, kann man in eine faccettenreiche Geschichte eintauchen. J. Arnold Ross ist von der Idee fasziniert, ein „Ölmann“ zu sein. Anfang des 20. Jahrhunderts versucht er damit, ein Vermögen zu machen, immer seinen Sohn Bunny im Schlepptau. Der erzählt ihm von Paul Watkins, der mit seinem Bruder Eli, der sich zum Prediger berufen fühlt, und seiner Schwester Ruth in Schulden zu ertrinken droht. Paul vermutet Öl auf seinem Land, Bunny erzählt das seinem Vater und der zieht die Geschwister über den Tisch und macht dabei sogar Eli (Andreas Vögler spielt ihn präzise, aber eine Spur zu kraftlos) ein esoterisches X für ein U vor. Paul (kraftvoll und versammelt: André Meyer) muss sich als Arbeiter bei Ross verdingen und wird so zum gemeinsamen Feind von Ross und Eli. Am Ende ist er tot und seine beiden Kontrahenten haben jede Distanz verloren, zu sich und zu ihren Karrieregegenständen, zum Öl und zum Glauben. Ross geht raus auf den Platz vor dem Theater und hackt das Pflaster auf. Wolfram Koch spielt das intensiv aus. Man denkt an deutsche Auto-Magnaten, die Gesetze ignorieren, um keine Profiteinbußen zu haben.
Immer wieder hat der Abend so starke Momente, geht plötzlich im übertragenen Sinne ein Licht an und stellt einen Zusammenhang her. Ganz stark etwa der Streik vor der Pause. Das Ensemble sitzt, samt Technikern und Souffleuse auf der linken Seite der Bühne, Parolen auf Pappschildern vor sich, und tut gefühlte 20 Minuten lang nichts. Auf der anderen Seite nur Wolfram Koch, der auf eine Weise kalauert, dass man nicht weiß, ob er gerade seine Figur denunziert oder ob der Regisseur einfach kein Comedy-Meister ist. Auf jeden Fall bekommen wir im Publikum Zeit, darüber nachzudenken, ob hier auch prekäre Beschäftigungsverhältnisse am Theater thematisiert werden, ob Jan-Christoph Gockel und sein Ensemble gerade Upton Sinclairs Anti-Ausbeutungs-Furor in die Stadttheaterwelt hineintragen. Sie tun das zumindest nicht mit einer eindeutigen Aussage, was sowohl als Stärke wie als Schwäche dieses eigenwilligen Theaterabends gelesen werden kann.
Nach der Pause wieder Film. Die Figuren versammeln sich im Theaterfoyer. Bunny will jetzt endlich seinen Vater verlassen. Torsten Flassig, der seine Figur oft sehr nah an die Jämmerlichkeit setzen muss, spielt hier ganz stark auf, zeigt, dass in dem geborenen Sohn mit dem silbernen Löffel im Mund doch ein kampfstarker Idealist stecken könnte. Aber er kommt nicht weg. Dazu wieder Spiegelungen in Text und Bild, Spiel mit der Distanz, kluge Einschübe von Lotte Schubert (Ruth) und der durch etliche Rollen, Rollenbilder und Klischees irrlichternden Caroline Dietrich. Beiden hört man sehr gerne zu. Dazu gibt es reichlich Anspielungen auf Filme, an Musik, in Kostümdetails. Die Kostüme von Amit Epstein sind hoch attraktiv anzusehen, ihre Symbolkraft bleibt aber ungefähr, gerade in der Stummfilmästhetik im zweiten Teil. Ähnliches gilt für den dunklen Riesenraum von Jule Kurzweg. Was sollen die von Glühbirnenbatterien erleuchteten Riesenbuchstaben? Nur Gags? Nur Schauplätze andeuten?
Immer wieder wird von Fritz Langs Stummfilm „Metropolis“ gesprochen. Bunny und Ruth sehen ihn im Kino, Caroline Dietrich geht als Brigitte-HelmSilhouette über die Bühne. Natürlich zeigt der Film eine Gesellschaft unmittelbar vor dem Umkippen. Menschen werden durch Maschinen ersetzt und können dann mit ihrer Arbeitskraft ihren Lebensunterhalt nicht mehr verdienen. Und genau diesen Prozess strebt Ross in der Öl-Industrie auch an. Wenn man den Film nicht kennt, versteht man diese Parallele möglicherweise nicht. Kennt man ihn, fühlt man sich, als wäre man erfolgreich nach einem Stöckchen gesprungen. Doch die Belohnung bleibt aus. Denn Jan-Christoph Gockel und sein Team haben eine gewaltige Anstrengung unternommen, um Upton Sinclairs 700-Seiten-Roman zu zähmen und sich anzuverwandeln, aber sie sagen uns letztlich nicht, warum. Sie analysieren klug, verhalten sich aber nicht entschlossen dazu. Immer wieder wird auf Fortschritt angespielt, von Fortschritt gesprochen. Wir verstehen, was jede einzelne Figur darunter verstehen könnte, aber das wird nicht zu einem Bild, einer Haltung zusammengeführt. So fehlt dem Abend, der für eine Gockel-Inszenierung übrigens ungewöhnlich laut ist, ein Kraftzentrum. Vielleicht auch: ein Aufbruchsignal, etwas, nach dem wir zurzeit alle gieren. Und das vielleicht vom Theater doch zuviel verlangt ist. So bleibt „Öl!“ virtuoses Spiel – und wird dafür vom Publikum intensiv gefeiert.