Wer meint, Clément habe sich hier etwa bei Claus Guths psychologischen Räumen und Träumen bedient, der irrt. Cléments Spiegelkabinett führt ungemein sinnlich durch die Geschichte, erweitert und vertieft sie auf ganz eigene Art. Die Kinder erleben das enge Erziehungskorsett und auch die immer wieder aufflammenden Streitigkeiten ihrer Eltern als Belastung, derer sie durch Puppenspiel und Märchenerzählen Herr werden möchten. Nachts gewinnen die Imaginationen dann Alpdruck-Realität. Zunächst singt jedoch noch der Sandmann ein Schlaflied. Hier ist es übrigens eine Sandfrau, nämlich eine Freundin der Eltern, die mit ihrem Gatten zu Besuch kommt und mal eben nach den Kleinen schaut. Das Taumännchen wiederum ist tatsächlich ein Traumwesen.
Aber jetzt endlich zur Knusperhexe, sie wohnt in einem riesigen Kuchen, der merkwürdigerweise an ein paar Stellen wie ein überdimensionierter Hamburger aussieht und komischerweise die deutschen Nationalfarben trägt. Die Hexerei und das Ofenschubsen erzählt Clément zwar ganz nach der Vorlage, allerdings singt beziehungsweise performt Anja Silja diese Partie zum Brüllen komisch. Kunsperhexe Silja schält sich langsam aus ihrem hässlichen Kostüm und legt die Hakennase ab, darunter kommt eine Glitzerrobe zum Vorschein. Es folgt ein unglaublich witziger Tanz, bald tauchen zehn weitere Balletthexen auf und plötzlich wird einem klar, dass Humperdinck hier eine ganz französische klingende Ballettmusik geschrieben hat! Nachdem die Hexen aber doch irgendwann ausgetanzt haben und die Oberhexe im Ofen vor sich hin knuspert, schließt sich langsam der Kreis hin zur allumfassenden Erlösung. Die Familie findet wieder zusammen und der Chor aus einst verhexten Kinderseelen jubiliert traumhaft schön. Hänsel und Gretel sind nun gereift und erzählen den Kleinen ihre Geschichten, animieren sie zum Mitfühlen und Nachdenken.
Man könnte noch stundenlang von den szenischen Details schwärmen: Hänsels Gefängnis wird zum Beispiel von einer mörderischen Spinne bewacht, er kann in dem Moment fliehen, als er seine Angst überwindet – die Tür war die ganze Zeit offen. Oder Gretels kurzer Auftritt als Walküre, womit innerhalb einer halben Minute Humperdincks Wagner-Bezug gezeigt wird. Das Beste und Klügste überhaupt ist aber die Verdopplung vor allem der Kinder, damit wird das Kernproblem der Oper gelöst, nämlich dass zwei erwachsene Sängerinnen Brüderchen und Schwesterlein verkörpern müssen.
Auch musikalisch war es ein großer Abend. Das Opernorchester brauchte unter Claus Peter Flor zwar ein wenig (dröhnende) Anlaufzeit, dann stellte sich luftig-transparenter Wohlklang ein. Irmgard Vilsmaier und Jochen Schmeckenbecher waren ein formidables Elternpaar, Daniela Sindrams Hänsel war in jeder Hinsicht eine Wucht, Anne-Catherine Gillets Gretel eine glockenhelle Wonne.