Foto: Ensembleszene © Anke Neugebauer
Text:Ute Grundmann, am 26. Mai 2017
Philipp Harnoncourt setzt die lange verschollene „Johannes-Passion“ von C. P. E. Bach in Szene.
Ein Kirchenmusikwerk, das absolut tauglich für die Theaterbühne ist. Das ist die erste Erkenntnis aus dieser ungewöhnlichen Premiere. Die zweite: Eine Passionsgeschichte, die so klar, frisch und intensiv klingt, als sei sie gerade erst entstanden. Dabei wurde sie bislang nur einmal, 1784 in Hamburg, aufgeführt: Die „Johannes-Passion“ von Carl Philipp Emanuel Bach. Danach galt sie 230 Jahre lang als verschollen, ehe sie Kirill Karabits, seit Beginn dieser Saison GMD in Weimar, im Archiv wiederentdeckte. Nun hat er sie im Deutschen Nationaltheater auch dirigiert, Philipp Harnoncourt übernahm die Inszenierung und die Gestaltung der Bühne.
Schon diese Bühnenkonstellation ist ungewöhnlich: Das Streicherensemble der Staatskapelle Weimar mit Kirill Karabits sitzt an der Rückwand erhöht, rechts vorne auf der Bühne sind Barockcello (Astrid Müller) und eine kleine Orgel (Holger Reinhardt) postiert. Daneben ist eine lange (Abendmahls-)Tafel aufgebaut, mit zusammengewürfelten Stühlen und Bänken, Obst und Blumen. Viele Menschen sitzen schon dort, einige Nachzügler schlendern herein, begrüßen sich, erzählen vom Urlaub, eine hat Hunger auf Süßes, eine andere auf Thüringer Klöße, eine dritte hat eine Iranerin als neue Nachbarin. Alltagsgeplauder, aus dem sich dann zum ersten Mal der mächtige und zugleich helle und schwebende Chor erhebt, mit den ersten Worten dieses Werkes: „Rat, Kraft und Friedensfürst und Held!“.
Den Textdichter kennt man bis heute nicht, weiß aber, dass dies eine von mehr als zwanzig Passionsmusiken des auch „Hamburger Bach“ genannten Komponisten ist. Danach war diese „Johannes-Passion“ verschollen, erst als 1999 das Archiv der Berliner Singakademie im Kiewer Staatsarchiv wiederentdeckt wurde, tauchte auch sie wieder auf. Der in der Ukraine geborene Kirill Karabits fand es dort bei der Forschung nach Alter Musik, setzte es selbst in ein modernes Notenbild um, den Sütterlin-Text ließ er von einer älteren Dame transkribieren. Und er brachte die Komposition des in Weimar geborenen, zweitältesten Bach-Sohnes eben dort zur quasi Wieder-Uraufführung.
Unter den vielen Konzerten, Aufführungen und Projekten zum Reformationsjubiläum ist dies sicher eine der ungewöhnlichsten. Philipp Harnoncourt entwickelt die Passionsgeschichte aus der Gruppensituation des Anfangs: Chorsänger, Solisten und Musiker tragen heutige Alltagskleidung. Es könnte eine Versammlung in einer Kirche sein, vielleicht beim „Kirchentag auf dem Weg“, wie er gerade auch in Weimar stattfand oder auch eine Gruppe Geflüchteter. Sie erzählen eine, ihre Passion und suchen darin nach Selbstvergewisserung. Der Evangelist ist zugleich Erzähler und Verkünder, Chronist und Gläubiger, Thaisen Rusch verkörpert ihn mit vielen Nuancen sehr eindrucksvoll. In einer „Art selbstauferlegtem Bilderverbot“ (Harnoncourt) gibt es nicht eine Jesusfigur, sondern deren vier (Oliver Luhn, Yong Jae Moon, Chang-Hoon Lee, Chong Ken Kim). Wie auch die anderen Solisten lösen sie sich aus dem Chor und kehren wieder in ihn zurück. Dazu der wunderbare, vielgestaltige Bass von Daeyoung Kim, die Sopranistin Emma Moore, Jens Schmiedecke als Petrus und Klaus Wegener als verschmitzt-mächtiger Pilatus.
Und natürlich der, von Mario El Fakih einstudierte, grandiose Chor: Mal heftig-drängend in einem vielstimmigen „Ich bin’s“, mal ganz behutsam und beseelt, dann wieder in Klang und Gestik wütend oder ironisch, wenn sie behaupten „Wir haben keinen König“. Harnoncourt setzt in diesen dichten 70 Minuten immer wieder Akzente: Zum einen, wenn Jesus ein Sack über den Kopf gestülpt wird, auf seinem Rücken ein blutiger Davidstern eingeritzt ist. Zum anderen eine Menora auf dem Tisch, das Kleiderzerreißen als jüdische Geste der Trauer, der Evangelist, der eine Art Gebetsschal trägt. Er ist es auch, der hinter dem Chor ein ganz sachtes, schmerzendes „Es ist vollbracht“ hervorbringt. Diese „Johannes-Passion“ mit ihrem erzählenden, die Botschaft vermittelnden Text ist weniger lauthals jubilierend als gedämpft tröstend, manches Halleluja des Chores klingt eher nachdenklich, das abschließende Kyrie schwingt weit aus. Es ist eine vielstimmige und vielschichtige Passionsgeschichte, eine lohnende Wiederentdeckung, im Nationaltheater lange bejubelt.