Geschwisterglück: Szene aus der UA "Schwester" am Theater Marabu in Bonn.

Parallelwelten

Jon Fosse: Schwester

Theater:Theater Marabu, Premiere:12.05.2012 (UA)Regie:Claus Overkamp

Kinder sehen anders als Erwachsene. Sehr anders. Sie verstehen andere Dinge und viele Dinge anders. Sie finden andere Dinge wichtig. Genau darum geht es in der Uraufführung „Schwester“, der Dramatisierung eines Bilderbuches des Erfolgsautors Jon Fosse. Thema sind die unterschiedlichen Erlebniswelten von Kindern und Erwachsenen. Rational, reflektiert, immer nach Ordnungskriterien suchend, gefühlskontrolliert aber oft angstgesteuert leben Erwachsene. Bei Kindern ist alles eins: Traum, Spiel, Leben. In den besten Momenten der Bonner Aufführung reißt dieser Graben auf – und wird mit einem Lächeln überbrückt.

Ein vierjähriger Junge hat einen gewaltigen Drang, die Welt kennen zu lernen. Immer wieder entzieht er sich, quasi unbewusst, der Kontrolle seiner Mutter, die daraufhin seinen Spielraum immer weiter eingrenzt. Als seine Eltern ihn aus Hilflosigkeit im Haus einsperren, ereignet sich die Katastrophe: Bei dem Versuch eine Fensterscheibe einzuschlagen, verletzt der Junge sich. Am Abend danach versucht er geistig seine Erlebnisse zu verarbeiten, fühlt sich grenzenlos allein und schmiegt sich zum Trost an seine ein Jahr jüngere Schwester.
Claus Overkamp lässt seine beiden Schauspieler weitestgehend in der dritten Person sprechen, gelegentlich auch chorisch. Die Eltern treten nicht auf. Die Beziehung zwischen den Geschwistern vermittelt sich fast ausschließlich über Mimik und Körpersprache. Hannah Biedermann und Philipp Schlomm spielen intensiv und rückhaltlos. Mit fast tänzerischer Eleganz zeigen sie das geheime Verständnis zwischen den Kindern.

Eine „atmosphärische Komposition aus Sprache, Musik, Bild und Spiel“ nennt Overkamp seine Dramatisierung. Die leere Bühne wird von dreieckig aufgespannten Leinwänden nach hinten abgeschlossen, eine abstrakte Landschaft als Projektionsfläche – in doppelter Hinsicht. Denn neben zwei Mikrofonen, mit denen Geräusche produziert werden, ist eine digitale Videokamera Hauptrequisit der Aufführung. Mit ihr werden auf der Bühne sichtbar Bilder hergestellt, die phantasievoll Schauplätze und Seelenzustände andeuten. Der Einblick in die Verfertigung der Illusion zerstört diese übrigens nicht, sondern scheint sie für das junge Publikum eher zu verstärken. Dazu gibt es immer wieder ausgelassene, sehr sinnlich aufbereitete Spiele zwischen den Geschwistern, etwa Kissen- und Schaum- und Marmeladenschlachten, die den Protest des erwachsenen Ordnungssinns fast provokativ herausfordern.

Gegen diese raumgreifende Körperlichkeit setzt Overkamp nachdenkliche Passagen, in denen Musik ein wenig aufdringlich zur emotionalen Verstärkung eingesetzt wird. Der „Depri-Faktor“ dieser Szenen erreicht vor allem die älteren Zuschauer. Ist es nicht schrecklich, wenn sich ein erst vierjähriger Junge „allein“ fühlt auf der Welt, wenn er seine Mutter nur als Instanz der Einengung seiner Freiheit wahrnimmt (und sie ihn vor allem als Aufgabe)? Ist das nicht traurig? „Nicht sehr.“, antwortet ein siebenjähriges Mädchen nach kurzem Überlegen und lächelt. So ist das wohl.