Parra bekennt sich ausdrücklich dazu, dass er den zunächst auf Französisch geschriebenen Texten in der deutschen Übersetzung von Claudia Kalscheuer komponiert hat. Die deutsche Sprache sei seiner musikalischen Diktion besonders angemessen. Das ist auch insofern hilfreich, als damit für deutsche Zuschauer das historische Spannungsfeld sehr unmittelbar spürbar wird, das Parra durch den Verweis auf den Ursprungsmythos der Oper einerseits und den gegenwartsnahen Sprachstil der Figuren andererseits aufspannt. Und dieses Spannungsfeld von nicht weniger als 400 Jahren Operngeschichte prägt auch die musikalische Struktur zutiefst. Parra hat seine Partitur für zwei verschiedene Ensembles geschrieben: ein Barockensemble (Violine, Viola da braccia, Gambe, Violone, Barocklaute und Barockharfe), gestimmt auf 415 Hz; und ein modernes Ensemble (Flöte, Klarinette, Oboe, Schlagwerk, Violine, Viola, Violoncello), gestimmt auf 440 Hz. Das macht einen Halbton Unterschied, den man deutlich hört, zumal beide Gruppen, das ensemble recherche und das Freiburger Barockorchester, gemeinsam im Orchestergaben des Carl-Orff-Saals im Münchner Gasteig eng beieinander sitzen.
Wie Parra mit dieser Differenz spielt, ist satztechnisch meisterlich, klanglich faszinierend und strukturell weit davon entfernt, nur auf wohlfeile Kontrastwirkungen zu setzen. Vielmehr bezieht er sehr gezielt zeitgenössische und barocke Schreibweisen aufeinander. Letztere sind zwar eher dem Mann und der Frau zugeordnet und erstere der Todin sowie mit deren zunehmender Entschlossenheit zum Opfer auch der Mutter. Aber indem Todin und Menschen miteinander in Interaktion treten, werden auch im Orchester barocke und zeitgenössische Figuren gleichsam enggeführt: Sie alternieren, schieben sich ineinander, gehen von einer auf die andere Gruppe über. Und an der Behandlung der Singstimmen wird noch klarer deutlich, dass Parra offenbar eine strukturelle Wesensverwandtschaft sieht zwischen der barocken Koloratur und den wildgezackten Vokalisen der neuen Musik, die er vor allem für die Todin geschrieben hat. Wenn hier einerseits die „barocke“ Sentimentalität der Frau scheitert und andererseits die „zeitgenössische“ Todin am Ende das Opfer annimmt und in die Unterwelt zurück muss, dann kann man das, abgesehen von der Frage nach der Glaubwürdigkeit traditioneller Liebeskonzepte, auch als musikalische Verhandlung über die Zukunft der Opernmusik verstehen, die Parra offenbar in einer Synthese aus (in diesem Fall barocker) Tradition und Avantgarde sieht.
Einer Uraufführungsinszenierung hätte es gut angestanden, diese Verweise auf Orpheusmythos und Operngeschichte in irgendeiner Weise zu reflektieren. Stattdessen zielt die Regisseurin Vera Nemirova aber eher auf die moderne Psychopathologie des bürgerlichen Familienlebens. Nur das zentrale Element von Stefan Heynes Bühnenbild könnte man als Verweis auf historische Tiefendimensionen lesen: ein sehr bildstarkes, rotierendes Labyrinth aus Wald-Fototapeten unterschiedlicher Jahreszeiten – eine Art Zeitmaschine also und damit Gegenwelt zur häuslichen Gegenwart der Frauen, die durch Sterbebett, Tisch und Stühle vorn auf der Bühne markiert wird. Aus dieser Gegenwelt kommen der Verstorbene und seine schöne Todin, letztere ist eine sehr erotische Todesgeigerin in Schwarz, die gern rittlings auf dem Schoß des Mannes sitzt und seinen Rücken mit ihrem Bogen streicht. Der Tod, so ahnt man, könnte ein Liebesakt gewesen sein, und das stellt der Ehe des Mannes nicht das beste Zeugnis aus. Als es dann um den verbalen Liebesbeweis geht, endet der in einem eifersüchtigen Gezerre von Tochter und Schwiegermutter an dem schwer gebeutelten Untoten. Und als die Mutter aus dem sentimentalen Eifersuchtswettstreit ausschert und ihr Leben opfert, da wird ihr Tod verkörpert durch eben jenen kleinen Sohn in kurzen Hosen, den sie seit dem Aufwachsen des Mannes so sehr vermisst hat. Wie auch beim Mann ist der Tod also eine Sehnsuchtsgestalt für den Sterbenden – und das Überleben folglich auch die Rückkehr zu einer Lebenslüge. Genau so sieht die zum Eheglück fest entschlossene Rückkehr der Frau in den Familienalltag dann auch aus.
Das sind einige der psychologischen Spuren, die Vera Nemirova in ihrer facettenreichen, effektsicheren und gern auch komödiantisch pointierten Personenführung auslegt. Um historische Dimensionen kümmert sie sich in der Personenführung wenig, was man einer Inszenierung, zumal einer so geschliffenen, allemal zugestehen kann. Nur bei der Uraufführung eines Werkes wirkt das dann doch etwas einseitig.
Von der musikalischen Realisation kann man das wahrlich nicht behaupten. Peter Tilling entfacht allen Klangzauber und alle Vielschichtigkeit, die aus dem Zusammenspiel der beiden Ensembles nur zu gewinnen sind. Und unter den durchweg guten Sängern sticht vor allem die fast schon dramatische Koloratursopranistin Lini Gong hervor, die bestechend brillant singt und mit großer Bühnenattraktivität agiert. Auch Alejandro Lárraga Schleske (Mann, lyrischer Bariton), Sally Wilson (Frau, lyrischer Sopran) und Sigrun Schell (Mutter, dramatischer Sopran) merkt man an, dass Parra die Partien mit ihnen gemeinsam in Freiburg erarbeitet hatte – auch wenn er ihnen wahrlich Halsbrecherisches an Koloratur und Intervallvirtuosität abverlangt. Alle vier Sänger sind oder waren Ensemblemitglieder am koproduzierenden Theater Freiburg, wo „Das geopferte Leben“ ab 27. Mai gezeigt wird. Mit der Münchener Derniere am 23. Mai aber endet die 14. Münchener Biennale – die letzte unter Peter Ruzicka.