Foto: Bürger:innen im New Orleans der 1890er Jahre träumen von ihrem Amerika. © Sandra Then
Text:Martina Jacobi, am 1. November 2023
An der Kölner Oper wird mit Frank Pescis „The Strangers“ ein fremdenfeindlicher Lynchmord Ende des 19. Jahrhunderts in New Orleans verhandelt. Redakteurin Martina Jacobi im Gespräch mit dem Juristen Michael Schröder über die Macht der Justiz in der Gesellschaft, Ermittlungsfehler der Polizei und Rassismus als potenzielles Motiv.
Martina Jacobi Das Programm von Frank Pescis Oper „The Strangers“, uraufgeführt Ende September im Kölner Staatenhaus als Ausweichspielstätte der Kölner Oper in der Regie von Maria Lamont, liest sich auf den ersten Blick brandaktuell: Einwanderer kommen in Konflikt mit anderen Bürgergruppen, Fremdenfeindlichkeit führt schließlich zu Gewalt und Selbstjustiz. Dabei nimmt Pesci Bezug auf den Lynchmord in New Orleans im Jahr 1891 an elf Personen italienischer Abstammung, die zuvor des tödlichen Angriffs auf Polizeichef David Hennessy angeklagt waren, alle jedoch freigesprochen wurden. In der zweiten Aufführung waren von den ohnehin wenigen Plätzen nur etwa die Hälfte belegt, was nicht unbedingt gegen eine komplexe inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Vorfall durch Pescis Oper spricht.
Michael Schröder Auch in der von mir besuchten Aufführung waren ähnlich viele Plätze besetzt, dennoch erhielten die Sänger:innen und das Orchester zum Schluss intensiven Beifall. Aber unabhängig von der Kölner Aufführung frage ich mich, ob das Werk die Aspekte ausreichend herausarbeitet, die uns heute noch an diesen historischen Lynchmorden interessieren: Zum einen gibt es eine in der Oper nicht thematisierte Vorgeschichte, die die Vermutung eröffnete, dass der Mörder des Polizeichefs aus der italienischen Community kam. Aber offensichtlich hat die Polizei seinerzeit Ermittlungen in andere Richtungen gar nicht angestellt – ein schwerwiegender Ermittlungsfehler, der auch der deutschen Polizei vor einigen Jahren bei der Aufklärung von Morden an Ausländer:innen unterlaufen ist. Diese Taten wurden in der Presse zum Teil als „Döner-Morde“ verharmlost, bis die Täterschaft des NSU aufgedeckt werden konnte.
Zum anderen wurden seinerzeit in New Orleans von den Geschworenen einige der elf Angeklagten einstimmig nicht für die Täter gehalten, bei anderen waren sich die Geschworenen dagegen nicht einig. Aber auch diese wurden zu Recht freigesprochen. Denn eine Verurteilung kann nur erfolgen, wenn die Täterschaft mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ feststeht. Dieses rechtsstaatliche Prinzip ist gerade dann von elementarer Bedeutung, wenn in der Öffentlichkeit ein großes Bedürfnis nach Sühne einer Tat besteht und zudem eine Gruppe von Menschen schnell als mögliche Täter ausgemacht wird.
Martina Jacobi Bei diesem Lynchmord war es schwer, Geschworene zu finden, die nicht entweder italienischen Einwanderern feindlich gegenüber eingestellt waren oder selbst italienischer Abstammung waren. Und dann hat sich nach dem Prozess dieser wütende Mob gebildet, um gewaltvoll selber „Recht zu sprechen“. Das fanden viele Bürger:innen von New Orleans damals sogar gut. Kann ein Justizsystem so einer Entwicklung von Angst und Wut überhaupt vorbeugen?
Michael Schröder Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass der deutsche Strafprozess kein Geschworenengericht im amerikanischen Sinne kennt. Vielmehr bilden die Richterbank Berufsrichter:innen und zwei Schöffen, also Laienrichter:innen, wobei in der Großen Strafkammer, also insbesondere bei der Entscheidung über Verbrechen, die Berufsrichter:innen in der Mehrheit sind. Mögliche Befangenheiten spielen daher eine geringere Rolle als bei der Besetzung einer Geschworenenbank. Unabhängig davon sind ein öffentlicher und transparenter Prozessverlauf, aber auch eine grundsätzlich hohe Akzeptanz gerichtlicher Entscheidungen in der Bevölkerung wichtige Voraussetzungen dafür, dass ein Urteil im konkreten Einzelfall hingenommen wird, das einer gesellschaftlichen Erwartungshaltung widerspricht.

Szene aus „The Strangers“ im Staatenhaus, dem Interim der Oper Köln. Foto: Sandra Then
Martina Jacobi Rassismus ist ein Motiv, das oft einem einseitigen Verdacht voransteht. In der Zeitung hieß es damals über den Lynchmord sogar: „Das Werk der Rache war schnell, präzise und durchschlagend und wurde mit nur wenig Aufregung in der Bevölkerung ausgeführt.“ Andere Zeitungen berichteten ähnlich. Scheinbar waren die Täter so stolz auf ihre Tat, dass auf einer Titelseite eine Liste ihrer Namen gedruckt wurde, darauf stand auch der damals künftige Gouverneur von Louisiana. Keiner der Täter wurde je angeklagt, die Familien erhielten schließlich eine Entschädigung durch die Regierung der Vereinigten Staaten. Worin besteht ein angemessener Opferumgang durch die Justiz?
Michael Schröder Hier geht es um die am Ende des Strafverfahrens freigesprochenen Angeklagten. Rechtlich gilt für sie während des laufenden Prozesses die Unschuldsvermutung, und am Ende ist ihre Unschuld durch den rechtskräftigen Freispruch öffentlich und verbindlich festgestellt. Zur gesellschaftlichen Akzeptanz von Urteilen haben wir uns ja schon kurz ausgetauscht. Wenn dennoch zu befürchten ist, dass Menschen einen solchen Freispruch nicht hinnehmen und deshalb Selbstjustiz üben, ist es Aufgabe der Polizei, die Freigesprochenen vor der Gefahr einer Straftat so gut wie möglich zu schützen. Schwindet die Bereitschaft der Gesellschaft grundsätzlich, die befriedende Wirkung eines Gerichtsprozesses und die Bedeutung eines abschließenden Urteils anzuerkennen, bekommt der Staat ein erhebliches Legitimationsproblem, das nicht alleine die Polizei lösen kann.
Martina Jacobi Der vielschichtige historische Hintergrund des Lynchmordes, den Pesci in „The Strangers“ verhandelt, bleibt in der Inszenierung ziemlich flach. Es fiel mir auch schwer, tiefer in die Hauptcharaktere einzutauchen, die alle ziemlich in Distanz zum Publikum bleiben. Das wird durch die historischen Kostüme und die Kulisse noch unterstützt. Die einzige Brücke, die hier ins Heute gebaut wird, sind Sänger:innen, die zu Beginn in Alltagskleidung mit Städteführern von New Orleans und Kameras wie Tourist:innen im Museum zwischen den Bühnenelementen herumlaufen und die darauf wie in Schaukästen in Szene gesetzten Hauptdarsteller:innen betrachten und fotografieren. Was hat das bei Ihnen ausgelöst?
Michael Schröder Ehrlich gesagt wenig. Musiktheaterinszenierungen, die die historische Handlung in ein Museumssetting eingebettet haben, habe ich schon einige gesehen. Wie so häufig, kommt es auf die konkrete Umsetzung an. Hier hat es nur begrenzt zur Verdeutlichung beziehungsweise Aktualisierung des auch heute noch relevanten Themas beigetragen.
Martina Jacobi Das Bühnensetting von Luis F. Carvalho fand ich eine ganz spannende Angelegenheit. Die kammermusikalische Besetzung des Gürzenich-Orchesters Köln unter Harry Oggs Leitung sitzt in der Mitte. Darum herum sind im Kreis sechs Bühnenelemente angeordnet, die wahlweise verschoben und zu unterschiedlichen Kulissen zusammengesetzt werden. Und wiederum in einem großen Kreis darum herum sitzt in zwei Reihen das Publikum. Die Handlung, die mal direkt vor der Nase, mal schlecht einsehbar ganz auf der anderen Seite stattfindet, spielt so mit Nähe und Distanz. Das hat mich daran erinnert, wie Einwanderungskonflikte durch verschiedene Medien oft weit weg scheinen, deren Auswirkungen aber doch in unseren Alltag hineinreichen. Gleichzeitig spielt das mit der historischen Dimension der Handlung aus dem Jahr 1891 und damit, wie sich die Geschichte wiederholt.
Michael Schröder Ja, das habe ich auch so erlebt. Allerdings kann die Inszenierung nicht ausgleichen, dass das Werk eindringliche Szenen eines solchen Konflikts nicht auf der Bühne zeigt – zum Beispiel, dass eine italienischstämmige Frau angepöbelt und angegriffen wird –, sondern davon nur nachträglich berichten lässt. Dadurch wurde es mir schwer gemacht, einer solchen für die angegriffene Frau bedrohlichen Situation emotional nachzuspüren.
UNSER GESPRÄCHSPARTNER: Michael Schröder, geboren 1968 in Münster/ Westfalen, studierte Rechtswissenschaften in Freiburg i. Breisgau und ist seit 1998 beim Deutschen Bühnenverein Stellv. Geschäftsführender Direktor.
Dieser Artikel ist erschienen in Heft Nr. 11/2023.