Lars Werners "Weißer Raum" bei den Ruhrfestspielen

Ohne Empathie

Lars Werner: Weißer Raum

Theater:Ruhrfestspiele Recklinghausen, Théâtre National du Luxembourg, Kleistforum Frankfurt/O., Premiere:08.06.2018 (UA)Regie:Anne Simon

Verschwörungstheorien gehören zur großen Passion des Rechtspopulismus. Nichts ist dem eigenen Opferstatus schließlich zuträglicher. Der rechtsradikale Patrick wurde gerade aus dem Knast entlassen und steckt mit einem Bein schon wieder im Loch. Er tigert in einer Glaskabine (Ausstattung: Anouk Schiltz) herum. Durch die Scheibe erpresst ihn seine biedere Bewährungshelferin Monika: Die Arbeit als V-Mann in der „Bewegung“ könnte ihn nicht nur vor neuer Haft bewahren. Das Stigma des Verräters könnte durch eine Lizenz zum Prügeln gemildert werden. Gleichzeitig interviewt die adrette Journalistin Marie den beflissenen Vollzugsbeamten Silvio, der längst vom Verfassungsschutz umgedreht wurde und Patrick schon in der Zelle zu manipulieren versucht hat. Die gut geschulte Skandalnase der Journalistin wittert ein Netzwerk mit allem Ingredienzen für einen Medienhype. Es hat schon viel Komik, wenn Lars Werner am Ende seines Stücks „Weißer Raum“ seine Rechtsradikalen als ferngesteuerten Haufen aufmarschieren lässt und damit die Selbstviktimisierung seines Personals grotesk überbietet. 

Nur: So steht es nicht im Manuskript. Regisseurin Anne Simon hat die eigentlich sukzessiv zu spielenden Schlussszenen zusammengezogen – was die Komik beträchtlich anheizt. Außerdem wurde Hölderlins „Hyperion“-Passage „So kam ich unter die Deutschen“ („Barbaren seit altersher…“) ins Stück eingefügt sowie die üblichen textlichen Antikörper der Repräsentation („Das ist aber kein weißer Raum“ etc.), andererseits Textpassagen gestrichen. Auf dem Titel des Programmzettels fungieren verblüffenderweise Lars Werner und Anne Simon als Co-Autoren, auf der zweiten Seite steht nur noch Lars Werner. Mehr Texttreue hätte man dieser Uraufführung bei den Ruhrfestspielen schon gewünscht. Doch der 30-jährige Lars Werner macht es jungen Regieadepten nicht einfach. Sein „Weißer Raum“, der mit dem Kleist-Förderpreis 2018 ausgezeichnet wurde, zoomt milieusatt ins ostdeutsche Subproletariat der Provinz (Lampertswalde) und entwickelt Figuren und Dialoge in psychologisch-realistischer Manier. 

Im Zentrum steht der 56-jährige Gleiswärter Uli, der die Journalistin Marie vor der Vergewaltigung gerettet und dabei den dunkelhäutigen Täter Munir Bounou erschlagen hat. Sein eingesperrter Sohn Patrick bestärkt ihn, mit seiner Tat der „Bewegung“ zu helfen. Marie deckt auf, dass Uli zuvor einen Pförtnerjob an der Uni verloren hat, weil er den dunkelhäutigen Omar ohrfeigte. Der Gleiswärter verliert schließlich seinen Job und setzt sich mit Silvios Hilfe an den Kopf der „Bewegung“, was wiederum seinen Sohn nervt. Während Ulis Frau Lotte die Familie zu schützen versucht, hadert Marie mit ihrem Opferdasein und gräbt sich immer tiefer in die Entlarvung Ulis hinein, auch um die eigenen Karriere zu befördern. Werner gestaltet seine Hauptfiguren höchst ambivalent, getrieben und zerrieben zwischen Selbstachtung, Geltungssucht, Erniedrigung, Anerkennung, Wut oder Rache.

Das ist nicht Anne Simons Sache, die jede Form psychologischer Eindringlichkeit unterspielt, ausgiebig und trostlos symbolisch mit „Negerküssen“ werfen oder die Schauspieler in der Beerdigungsszene von Munir sich über die Hitze auf der Bühne beklagen lässt. Immerhin entwickelt Martin Olbertz als Uli behutsam ein Charakterbild dieses fast etwas naiven Underdogs. Er stampft bedächtig über die mit Wartebänken, aufgetürmten Rasenmatten und einer fahrbaren Glaskabine möblierten Bühne, ist weit entfernt von ideologischen Steroidgaben. Zum Frontmann der „Bewegung“ wird er nur, weil ihm seine Fähigkeit zum Reden Anerkennung verschafft. Reziprok fühlt sich die Journalistin Marie durch Ulis mörderische Rettungstat immer mehr als nicht verteidigungsfähiges Opfer und als Schuldige. In Nina Schopkas Darstellung werden diese Gefühle mit einer burschikos-sarkastischen Schutzschicht lasiert, die ihren journalistischen Furor auch als Vergeltung erscheinen lassen könnten. Und: Auch ihr winkt die Anerkennung eines besseren Jobs in Dresden. Die Frage der zerbeulten (Selbst-)Achtung zieht sich subkutan durch das ganze Stück. Ulis Streit mit seinem Sohn Patrick um die Führung der rechtsradikalen „Bewegung“ hat deshalb kaum strategische Gründe. Allerdings wirken Dominik Raneburgers cäsarische (Toga-)Posen mit Rasenmatten und seine ironische Überdosierung ziemlich deplatziert.

Je länger der Abend dauert, desto mehr schält sich der Verdacht heraus, dass die Regisseurin dem Stück, seiner Dramaturgie und seinen Figuren nicht vertraut. Mehr noch: Ihnen keine Empathie entgegenbringt. Doch genau darin liegt Lars Werners großes, vielleicht auch verstörendes wie kritisches Verdienst. Doch davon ist diese Uraufführung allzu weit entfernt.