Neuenfels also lädt die Zuschauer ein zum Gedankenspiel über Aktualität des Mythos. In diesem Sinne bietet er mannigfache Assoziationsanreize. Er aktualisiert allerdings nie direkt – das würde der Überzeitlichkeit des Mythos widersprechen. Folglich hat Elina Schnizler die Figuren in zeitlos edel antikisierende Couture gekleidet. Und Neuenfels zeigt – unterstützt von Beate Baron und Wolfgang Nägele – allein durch seine präzise Personenführung sehr genau, dass das Verhängnis, das Apollo verfügt hat, auch deshalb so verheerend wirkt, weil die Menschen einerseits schwach und andererseits überheblich sind. Laios glaubt, mit menschlicher List dem Gott trotzen zu können. Merope belügt Ödipus über seine Herkunft. Ödipus wird nach seinem Sieg über die Sphinx zum eitlen Politiker, selbstherrlich, wo er von Geburt an Spielball des Schicksals ist. Und des Teresias Klage über das Wissen findet vor dem Hintergrund all der wissenschaftlichen Formeln an der Wand ihren Widerhall im modernen Zweifel am Segen eines wissenschaftlichen Fortschritts.
Das ist spannend und anregend, auch weil Neuenfels nie illustrativ wird, sondern seine Bedeutungsfelder in einer assoziativen Schwebe hält. Aber sie schweben eben doch auch recht unverbindlich über Enescus Oper. Sie interessiert Neuenfels nicht als konkrete Auslegung des Ödipus-Mythos, sondern als Repräsentation dieses Mythos schlechthin. Entsprechend hat er sie sich gemeinsam mit seinem Dramaturgen Henry Arnold eingerichtet: in einer eigenen deutschen Übersetzung, der 4. Akt (der erzählt, wie Ödipus bei den Athenern seinen Frieden findet) fehlt völlig, auch sonst gibt es Striche, so dass von dem gut zweieinhalbstündigen Werk noch etwa 100 pausenlose Minuten übrig bleiben. Und wo Enescu ihm keinen Rückhalt für seine interpretatorischen Thesen bietet, da liefert Neuenfels sie per Textprojektion. „Es gibt keine Erkenntnis außer der Hoffnung“, lesen wir ganz am Schluss. Da wird’s dann doch arg sentenziös.
Dass dieser Abend dennoch lebendiges Musiktheater ist, liegt auch an den hervorragenden Solisten. Simon Neal singt und verkörpert den tragischen Titelhelden mitreißend. Sein dunkler, basswuchtiger Bariton hat alle Kraft, aber auch die nötige Eleganz und Kultur für diese anspruchsvolle Partie und vor allem enorme empathische Ausstrahlung. Daneben hat diese Oper keine weitere große Partie, aber wieder einmal hat die Oper Frankfurt – unter der Intendanz von Bernd Loebe ein Markenzeichen des Hauses – all die mittleren und kleineren Partien dieses Werkes groß und charaktervoll besetzt: Magnús Baldvinsson ein Teresias von herbem Leidenspathos, Dietrich Volle ein Kreon von pfaueneitler, aalglatter Eleganz, Vuyani Mlinde ein sonorer Hoherpriester, Andreas Bauer ein Wächter von durchschlagender Wucht, Hans-Jügen Lazar ein Laios von hohler Würde, Tanja Ariane Baumgartner eine lyrisch-klangvolle Jokaste, selbst der nur wenige Minuten währende Auftritt der Sphinx bleibt dank der Bronze-Leuchtkraft von Katharina Magieras Alt in nachhaltiger Erinnerung. Der von Matthias Köhler einstudierte Chor ist mit großer Präsenz am Werk, und Alexander Liebreich leitete sie alle und das Frankfurter Museumsorchester zu einer sehr vielschichtigen Interpretation an. Er gibt den musikalischen Kulminationspunkten alle Wucht, die hier nötig ist, arbeitet sonst aber vor allem Enescus herbzarte, fein geäderte, sehr eigenwillige Klangfarben exquisit heraus. Viel Beifall, fürs Regieteam auch vereinzelte Buhs.