Hier, im zweiten Akt seines „Don Giovanni“ am Theater Heidelberg, inszeniert der Regisseur Lorenzo Fioroni schon längst nicht mehr „das Stück“, sondern er inszeniert den Diskurs über dieses Stück. Und zwar einen ziemlich pessimistischen. Im ersten Akt, da war die Welt noch halbwegs in Ordnung gewesen, da hatte das Dramma giocoso geistreich amüsant begonnen als artifizielles Theater für barocke Puppenfiguren im fortgeschrittenen Verfallsstadium. Auf Ralf Käselaus da noch lebensgroßer und portalfüllender barocker Gassenbühne und in den wunderbar derangierten und verschmuddelten Kostümen von Annette Braun sahen sie zwar alle ein bisschen so aus, als hätten sie sich zum Tanz der Vampire auf Giovannis Lustschloss verabredet. Aber es ging wenigstens fidel zu in dieser Gesellschaft, deren abgerissene Blässe ganz gut zu ihrer mentalen Verfassung passte: Alle sind sie in ihren Obsessionen gefangen, aber keiner wagt es, diese auszuleben. Das ist psychisch ungesund. Deshalb verlieren sie vor lauter Kopfkino immer mal wieder die Realität aus dem Blick und tragen dann Augenbinden. Und deshalb brauchen sie Don Giovanni, damit er tut, was sie sich versagen. Und wollen ihn doch am liebsten mit Pistole und Gewehr zur Strecke bringen, um so die Schatten der eigenen Seele ausmerzen.
Ein wechselseitig blutsaugerisches Verhältnis, das zutiefst ambivalent ist: Ohne Don Giovanni als Stellvertreter ihrer Sehnsüchte würden sie an Anämie zugrunde gehen; und ohne dieses sehnsüchtige Publikum droht dem Stellvertreter der Lebenssaft zu versiegen. Was man immer wieder mal sieht, wenn er mangels akklamierenden Publikums in sich zusammenfällt. Und was auch am Verhältnis zwischen Herrn und Diener ablesbar ist: Leporello erscheint in Kostüm und Habitus als Doppelgänger seines Herren, der sich nur noch auf dem Minimal-Level seiner Lebensenergie durchs Heldenleben schleppt. Diese Konstellationen dekliniert Lorenzo Fioroni in differenzierter, präziser Personenführung durch, und dazu auch noch mit einem genau auf Text und Musik gezirkelten Witz, dass es ein Vergnügen ist. Der Titelheld wäre als Jack-Sparrow-Parodie allein schon abendfüllend.
Aber es ist hier wie so oft in den Inszenierungen von Lorenzo Fioroni: Gerade glaubt man, dem Regisseur auf die Schliche gekommen zu sein – da fliegt der Abend förmlich auseinander. Im ersten Akt dekonstruiert Fiorini den Helden, aber im Rahmen des von Mozart und seinem Librettisten Da Ponte vorgegebenen musikdramatischen Kontinuums, das so eine Deutung ja durchaus zulässt. Im zweiten Akt aber dekonstruiert er dieses Kontinuum selbst: Die Regie macht „das Werk“ quasi zum Gegenstand eines szenischen Essays. Die Bühne des ersten Aktes ist zum Miniaturbühnchen im großen trostlos schwarzen Bühnenhaus geschrumpft. Auf diesem Bühnchen schreitet die Weltgeschichte in simplen Bildchen, aber mit Riesenschritten voran: Französische Revolution, das Wüten der Guillotine gegen den Adel, Restauration, Nationalsozialismus, eine Apollo-Rakete auf Weltraumfahrt – dieser unaufhaltsame historische Fortgang hat die Figuren offenbar von der Weltbühne vertrieben. Nun irren sie wie Heimatlose durch das schwarze Nirgendwo. Wer mit den neuen Zeiten geht, wie Masetto und Zerlina und schließlich auch Donna Anna und Don Ottavio, der sichert sich als Bürger eine Überlebenschance in der düsteren neuen Welt. Wer aber ohne die alte Grandezza nicht lebensfähig oder -willig ist, der geht zugrunde – wie Don Giovanni, Leporello und Donna Elvira. Eigentlich ist das ein Misstrauensvotum gegen das Werk selbst. Oder aber umgekehrt: gegen eine Welt, in der Don Giovanni keine Heimat mehr findet. Es ist der Sieg eines tristen Alltagsdurchschnitts über das Inkommensurable.
Diese Inszenierung wimmelt vor lauter teils recht speziellen Assoziationsangeboten. Damit gibt der Regisseur dem Publikum harte Denknüsse zu knacken, von der grundstürzenden Attacke auf einen geliebten Opernhelden mal ganz abgesehen. Die besondere Überzeugungskraft dieses denkwürdigen Abends liegt aber darin, dass all das nicht nur als szenische Behauptung gegenüber einer unverdrossen weiterspielenden Musik firmiert, sondern vom Heidelberger Generalmusikdirektor Elias Grandy kongenial mitgetragen wird. Schon im ersten Akt dividiert Grandy die Partitur förmlich auseinander in Nähmaschinentempo-Abschnitte einerseits, die in den Ensembles eine fast Rossini-haft obsessive Hektik entfalten; und in sentimental innehaltende Gefühlsentäußerungen andererseits, in denen das Tempo stillzustehen droht. Das verleiht dem musikalischen Ablauf eine artifizielle „Uneigentlichkeit“, die das Augenmerk darauf lenkt, wie es „gemacht“ ist. Und auch musikalisch wird diese Dekonstruktion im zweiten Akt sehr lustvoll auf die Spitze getrieben! Wie Davide Perniceni am Cembalo die Rezitative parallel zum Zeitraffer auf der Minibühne durch die Zeiten katapultiert, wie er sie romantisiert und irgendwann unversehens bei Ennio Morricone landet, das hat Klasse und Witz. Wie sich Ipca Ramanovic als Don Giovanni auf dem Akkordeon – atemberaubend virtuos! – selbst begleitet und dabei einen ziemlich abenteuerlichen Weg von ungarischen Pusztaklängen bis zu Pariser Musette-Schmachtereien findet, ist umwerfend. Großartig auch seine Parodie des „Großen Diktators“, der hier aber nicht mit der Welt jongliert, sondern mit einem schwarzen Riesenluftballon, auf dem ein Comic-Frauengesicht gemalt ist – da wird Giovanni vollends zur Karikatur des „Großen Liebhabers“.
Was Grandy gleichwohl an struktureller Vielschichtigkeit aus der Partitur herausholt, in straffen Tempi und größtmöglicher dynamischer Differenzierung, das ist atemberaubend. Er interpretiert jedes Detail aus dem genau ausbalancierten Ganzen; und die Sänger begleitet er nicht, sondern er führt sie mit aller Strenge – was aber auch heißt, dass aller musikalische Zusammenhalt aus der Koordination des Dirigenten erwächst. Momente spontanen gemeinsamen Musizierens und freien Miteinander-Atmens sind an diesem Abend selten – was den Sängern das Leben nicht immer leicht macht.
Was sie alle stimmlich und darstellerisch leisten, ist in seiner Überzeugungskraft und Vitalität gleichwohl überragend. Ipca Ramanovic ist stimmlich kein idealer Don Giovanni, dazu bräuchte er mehr Klarheit im Timbre und Stabilität im Volumen. Aber wie er Fioronis komplexes Figurenkonzept einer gebrochenen, artifiziellen Figur verkörpert, hat große Klasse. Ähnlich die Donna Anna der Irina Simmes, die zudem mit ihrem energetisch leuchtenden, jederzeit fokussierten, in allen Registern ausgeglichenen Sopran die Zuhörer betört. Hye Sung-Na ist eine quecksilbrig funkelnde, dabei stets tragfähige Donna Elvira, Namwon Huh ein Ottavio mit viel italienischem Schmelz, der nur manchmal ein bisschen eng klingt, James Homann ein wuchtig präsenter Leporello, der allerdings mitunter Mühe hatte, Grandys Tempi mitzugehen. Und Shahar Lavi ist eine vitale, beseelte Zerlina, Zachary Wilson ein nicht eben profilierter, aber wohltimbrierter dunkel-schlanker Masetto. Dass man viele Rollen-Debüttanten hörte, war bei der Premiere allerdings spürbar. Da muss sich einiges noch festigen, sowohl in der Intonation wie vor allem auch in der Feinabstimmung der Ensembles.
Den Chorpart hat der von Ines Kaun betreute Kinder- und Jugendchor des Theaters Heidelberg übernommen. Er verkörpert damit gegenüber den obsessionszerfressenen Alten eine junge Generation, deren Unschuld aber auch nicht zu trauen ist. Mit ihren uniformen Blondhaar-Perücken wirken sie seltsam stereotyp, wie die Kinder aus John Carpenters „Dorf der Verdammten“. Eine glückliche Zukunft verspricht diese Inszenierung niemandem: nicht den unheimlichen Kindern, nicht den kleinkarierten Bürgern, nicht den großspurigen Adeligen und schon gar nicht dem schillernden Verführer. Lorenzo Fioroni prophezeit uns allen triste Zeiten ohne Grandezza und ohne Helden. Das gefiel einigen Zuschauern aus naheliegenden Gründen gar nicht: Es gab begeisterten Beifall für die musikalischen Protagonisten, aber auch Buhs für den skeptischen Regisseur.
27./29./31. Oktober, 7./19./26./30. November, 7./15. Dezember, 12. Januar, 1./.2./3. Februar, 5./18./31. März, 17. April, 21. Mai (Änderungen vorbehalten)