Foto: „Der fliegende Holländer“ in der Dorfkneipe bei den Bayreuther Festspielen 2021 © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
Text:Joachim Lange, am 26. Juli 2021
Der 25. Juli bleibt ein Fixpunkt für den Opernkalender in Deutschland. Den nimmt selbst die Politik zur Kenntnis. Hier lässt sich auch ihr Spitzenpersonal gerne sehen. Die Kanzlerin sowieso. Aber auch gleich drei Ministerpräsidenten (Bayern, Sachsen, Saarland) waren bei der Eröffnungspremiere der Bayreuther Richard-Wagner-Festspiele dabei. Diesmal zwar ohne roten Teppich, dafür mit noch mehr Polizeipräsenz, als sich in den letzten Jahren schon eingebürgert hat. Zur Sorge um die Sicherheit kommt die Angst vor dem Virus: Zäune, Kontrollen, Armbändchen, Maskenpflicht. Aber Wagnerianer sind leidensfähig. Dass das Festspielhaus coronabedingt nur halb gefüllt war, merkte man an den freien Neben- und Vorderplätzen. Irgendwie voll wirkte es trotzdem. Und jeder schien froh, dass er es bis auf einen der 911 freigegebenen Plätze geschafft hatte.
Außerdem gilt’s hier immer noch der Kunst! Ein neuer „Fliegender Holländer“ – das dauert nicht länger als knappe zweieinhalb pausenlose Stunden. Und es ist immer was los: große, geradezu populäre Chöre, der gespenstische erste Auftritt des Holländers, Sentas Ballade, zwei Außenseiter mit Weltfluchtambitionen.
Dmitri Tchernaikov ist dafür eigentlich eine gute Wahl. Was wirklich am Ende rauskommt, weiß man freilich vorher nicht. Natürlich hat der Russe als Regisseur und sein eigener Bühnenbildner eindrucksvolle – wenn auch deprimierende – Bilder für diese verquere Liebes- und Erlösungsgeschichte und eine detaillierte Personenregie parat. Elena Zaytseva sorgt für die üblichen ungefähren Gegenwartskostüme mit leichtem Secondhand-Tuch.
Die Seefahrer hängen in der Dorfkneipe ab. Auch sonst: kein Schiff, nirgends. Beim Finale scheint der Regisseur gänzlich vom Kurs abgekommen und in der „Götterdämmerung“ gelandet zu sein. Da hat sich das Halbdutzend Bühnenhäuser, das sich wie von Geisterhand dauernd bewegt, zu einer Fassadenfront formiert und brennt lichterloh. Davor sieht es aus wie nach einer veritablen Schlacht auf dem Dorfplatz, bei der erst der Holländer einfach ein paar Männer erschießt und dann Frau Mary mit der Flinte den Holländer. Immerhin bleiben Senta, ihr Vater und Eric am Leben. Mit viel Zeit und einem guten Psychiater haben die vielleicht noch ein Leben danach.
Was wir bis dahin miterlebt haben, war die Geschichte eines Mannes (Holländer) mit einem prägenden Kindheitstrauma. Und die einer jungen Frau (Senta) mit einem gewaltigen Verhaltensproblem. Da steuern zwei Handlungsstränge aufeinander zu, kollidieren aber eher, als ineinander aufzugehen.
Bei dem Mann wird nicht klar, wie er mit seinem Trauma eigentlich umgeht. Aus der Bebilderung der Ouvertüre wissen wir, was er als Kind miterlebt hat. Die Mutter schickt ihn jedes Mal weg, wenn sie es mit einem Mann aus dem Dorf treibt – halb sucht sie ihn, halb langt er zu. Von der Dorfgesellschaft wird sie dafür so gemobbt, dass sie sich erhängt. Wenn der Junge als gestandenes Mannsbild nach Jahren an genau den Ort zurückkehrt, dann könnte man auf eine Art Besuch des noch nicht alten Mannes spekulieren. Eine Rache also. Die Werbung um Senta bei einem gemeinsamen Abendessen bei Daland und (seiner) Frau Mary lässt das aber offen.
Senta ist hier vor allem eine verwöhnte Göre. Nach dem Motto: Hauptsache weg und sei es aus dem Leben. Wo dafür die Wurzeln liegen, erfahren wir nicht wirklich. Vielleicht benimmt man sich so wie diese Senta nach einem Jahr echter Corona-Quarantäne in einem von Tcherniakovs ziegelsteinverkleideter Häuser? Wenn Senta vor den kalten Fassaden allein unter der Laterne steht, berührt ihr Schicksal für Momente tatsächlich. Die fliehende Senta sozusagen.
Und doch: Tcherniakovs Regie ist immer nur dann wirklich gut, wenn es ihr tatsächlich gelingt, die Geschichte, die der Regisseur erzählt, mit der, die auf dem Programm steht und die man hört, zu vernetzen, um das eine mit dem anderen zu erhellen. Genau diesen Kick bleibt er diesmal schuldig. Dafür kassiert er etliche Buhs beim Schlussapplaus.
Die Litauerin Asmik Grigorian aber wird gefeiert. Sie lässt zwar kaum ein gutes Haar an Senta (man versteht Erik am Ende, als er abwinkt und sein redliches Bemühen aufgibt), aber das macht sie phänomenal. Ihre gesamte Darbietung durchzieht eine unbändige darstellerische und vokale Präsenz. Auch Marina Prudenskaya ist als rätselhafte, am Ende den Holländer ermordende Frau an der Seite von Daland und auf darstellerischer und vokaler Augenhöhe mit Georg Zeppenfeld grandios. Der gehört im Bayreuth der letzten Jahre quasi zum Stammensemble. (Ein Künstler, bei dem man sich nicht vorstellen kann, dass er wie gerade Günther Groissböck fünf Tage vor der Premiere eine Rolle wie den Wotan einfach zurückgibt.) Neben ihm hatte es der sich wacker schlagende John Lundgren in der Titelpartie nicht leicht. Eric Cutler macht seine Sache als um die ausgetickte Senta ringender, geradezu belcantistischer Erik gut.
Es wird sicher wieder einige Beobachter geben, die aus der zwar überraschenden, aber tatsächlich auch etwas tröstlichen Umarmung von Senta und Frau Mary am Ende eine Art Triumph der Frauen machen. Einen echten Triumph konnte auf jeden Fall die (erste) Frau am Pult des Festspielorchesters Oksana Lyniv für sich verbuchen. Ein Debüt als reife Leistung unter obendrein erschwerten Bayreuther Bedingungen. Diesmal musste nicht nur der verdeckte Graben und die Bühne zusammengedacht und -gebracht werden, sondern auch noch der im Probensaal singende Chor (bewährte Einstudierung: Eberhard Friedrich). Die eine Hälfte spielte, um den Gesang wissend, auf der Bühne; die andere sang, das Spiel imaginierend, nebenan. Dass da am Ende etwas die Luft raus war, ist kein Wunder. (Im Neudeutschen würde das vielleicht heißen, dass die Chorist*innen und -außen gut zusammenpassten…)
Im Ganzen hat es funktioniert und stimmt hoffnungsvoll, was diese Dirigentin und die Offenheit von Bayreuth für diese wirklich längst überfällige personelle Neuerung betrifft. Der Jubel für Oksana Lyniv war denn auch ganz zu Recht euphorisch.