Foto: Thomas Kohl und Anna Danik in "Kain und Abel" am Theater Nordhausen © Julia Lormis
Text:Roland H. Dippel, am 27. November 2021
Die Wiener Moderne lebt weiter – in Werken und als Vorbild für nachfolgende Generationen. Bei Christophs Ehrenfellners ausladender und tongewaltiger Auftragsoper „Kain und Abel“ für das Theater Nordhausen kamen die Reminiszenzen sogar in bedrängnis- und bekenntnishafte Nähe zum Goetheanum in Dornach. Mit Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“ in der Fassung für Streichorchester von 1943 steigerte sich der zweite Teil des Abends zum beeindruckenden Triumph für Ivan Alboresi und das glänzend aufgestellte Ballett TN LOS!.
Das Loh-Orchester Sondershausen lieferte unter Henning Ehlert fein ziselierte Streicherfiguren und noch feinere Klangerkundungen in diesem Schwellenwerk zwischen Spätest-Romantik und Moderne. Damit ließ sich unter den fallenden Bändern auf der sonst schwarzen Bühne von Birte Wallbaum tänzerisch und atmosphärisch sehr gut etwas anfangen. Wie in „Verklärte Nacht“ ging es in „Kain und Abel“ des 1975 geborenen Salzburgers Christoph Ehrenfellner, dem Nordhäuser Composer in residence bis 2019, um eine Revision der bislang männerdominierten Geschlechterrollen.
Urbaner Tanz über aktuelle Debatten
Anja Schulz-Hentrich steckte die gesamte Tanzkompanie in blaue Anzüge – alle Geschlechter gleichberechtigt. Von einer Schwangerschaft durch einen anderen Mann, welche die Frau in Richard Dehmels Gedicht „Verklärte Nacht“ ihrem Liebhaber beichtet, ist in der tänzerischen Dreierkonstellation nichts zu sehen. Von physischer Reproduktion oder Fortpflanzung bleiben Alboresis gertenschlanke Androgyne um Lichtjahre entfernt. Die Frau (Otylia Gony) und der Mann (Thibaut Lucas Nury) agieren voll emanzipiert. Nichts erinnert an Geschlechterstereotypen und Unterdrückung fraulicher Sehnsüchte, das breite Dauerthema früherer Paar-Tanzschaften. Nur überkommt den Mann bei Alboresi des Öfteren ein nebulöses Zittern.
Wenn sich der sinnliche Dritte (Alfonso López González) mit freiem Oberkörper in die offene Zweierbeziehung mischt, beginnt sofort der Rückfall in alte Muster: Grazile Frau steht auf attraktives Testosteron. Getanzt wird ohne Schuhe, mit sehr expressiven Aktionen der Arme und dramatischem Feuer. Alboresi schafft Spannungsbänder zwischen Schönbergs reibend sinnlichen Akkorden, Dehmels Gedichten über „Zwei Menschen“ im Kosmos ihrer Beziehungsschattierungen und autonomem Tanz.
Die Duo- und Dreierszenen geraten weitaus intensiver als der Prolog, zumal das Ensemble nicht sonderlich verständnisreich Satzfragemente Dehmels skandiert und erst dann die Protagonisten sich aus der physischen Bubble von Leibern lösen. Am Schluss zeigt Alboresi, dass er sich auskennt mit den ideologisch nicht unbedenklichen Motiven des Art Nouveau: Ein Lichtstrahl fällt auf den platinblonden Scheitel eines Tänzers. Wird das die Zukunft der schönen neuen Gleichmacherei? In der Konstellation des erotischen Dreiecks steht demzufolge auch die Frage, was von den früheren Konflikten und dem leidenschaftlichen Begehren bleibt, wenn Konfliktmuster sich überleben. Alboresi kreiert urbanen Tanz für heute, der den Ausflug nach Nordhausen lohnt: Packende Leistung einer starken Truppe!
Ein ewig währender Konflikt
Christoph Ehrenfellners Oper auf das Textbuch vom Nordhäuser Intendanten Daniel Klajner und von Anja Eisner (der früheren Chefdramaturgin) steht eindeutig in der Reihe frühmoderner Mörderfrauen-Spektakel wie „Salome“ oder „Turandot“. Mit einem entscheidenden Unterschied: In „Kain und Abel“ kommt der breitwalzende Primadonnen-Showdown nicht erst zum Schluss, sondern gleich am Anfang. Urmutter Eva erinnert sich in vielen „Weh“, „Ach“ und gepanzerten Tonstürmen. Mit Anna Daniks sportiv eindrucksvollem, echt hochdramatischem Mezzosopran, mit einschüchternden Lautstärken des Orchesters und vor einem Chor der (von wem denn?) geknechteten Frauen in karger Urlandschaft. Die Frage drängt sich: War Adam in Ehrenfellners nicht gezeigter Vision Polygamist? Es gibt dann zwei Morde, nicht nur einen.
Der erste von Kain an Abel steht genau so in der Genesis, Kapitel 4. Der zweite von Eva an Adam ist eine gar nicht so unattraktive, weil sehr zeitgeistige Erfindung des Nordhäuser Libretto-Duos. Adam sieht aus wie die zwiespältige Herrscherfigur einer Space-Opera. Thomas Kohl bietet dazu die passend schöne, von der Technik auch in Surround versetzte Bassschwärze. Als Adam behandelt er Kain und Eva, die beiden Redlichen, wie den letzten Dreck, obwohl gerade sie mit Zuwendung oder Landwirtschaft die Kleinfamilie mit den beiden längst flügge gewordenen Söhnen zusammenhalten. Nur Abel ist dem alten Adam angenehm – er ist hier ein in Körper (Kino Luque mit schmelzenden Blicken, ganz in Weiß) und Stimme (himmelhoch singende Sopran-Perle: Amelie Petrich) geteiltes Luftgeist-Wesen.
Der Konflikt zwischen harter Arbeit, ungerecht gewichteter Zuneigung und als Nichtstun missverstandenem Gebet – in der Bibel setzt sich das bei Josef und seinen Brüdern, bei Maria und Martha in Bethanien fort – muss eskalieren. Also erledigt der kräftige Kain (sensibler Gutsherrenbariton: Philipp Franke) seinen grazilen Bruder mit sparsam gezielten Schlägen und einer Konzentration, mit der er wohl auch seine Arbeit auf den Weinbergen und in der post-paradiesischen Fleischindustrie verrichtet. Und dann gibt es noch den klagenden „Videns“ (Sehenden): Jörg Neubauer sieht aus wie Oedipus und der blinde Seher Teiresias in einer Person – mit herausgestochenen Augen à la Gottfried Helnwein.
Wenig geändert hat sich also außer dem schöpferischen Vergröberungsprozess seit Rudi Stephans erotischen Musikdrama-Mysterium „Die ersten Menschen“ von 1915. Dort hatte der Mord Kains an Abel sein Motiv in inzestuösen Spannungen, von denen die menschliche Urbevölkerung deutlich überfordert war. Ehrenfellner erfand ein Opernfinale von eiliger Wucht, das den Mythen hinterfragenden Anthroposophen im Goetheanum Dornach wie auf gendernde Quotengleichheit pochenden Zeitgenoss:innen supergut gefallen müsste: Eva bringt den plakativ machoiden und böswilligen Adam um. Also ist auch Gott jetzt mausetot. Birte Wallbaum steckt Eva in ein Druidinnen-Kleid, das an Oberammergau vor Christian Stückl erinnert. Die Felsen mit Altarfläche für den gehobenen Opfer-Komfort pegeln zwischen abstrahierendem Neu-Bayreuth und blechernem Thingspiel. Ein Kraftakt, nicht nur für den inszenierenden Librettisten Daniel Klajner, sondern auch für das sich mit diesem herausfordernden Projekt bestens profilierende Theater Nordhausen.
Wie soll Eva, die Protagonistin dieses Ehrenfellnerschen Mysterien-Musiktheaters, nicht in langen, herzzerreißenden Tönen klagen – wie soll sie da nicht weinen? Der Schluss kommt gewaltig wie in „Salome“, wenn bei Strauss diensteifrige Soldaten die Prinzessin unter ihren Schilden zermalmen. Es ist auch bei Ehrenfellner ein gar gewaltiger Fortissimo-Schluss. Schon lange davor treibt Henning Ehlert mit dem Loh-Orchester Sondershausen der Sanierung und Erweiterung des Theaters zuarbeitend Ehrenfellners erbarmungslose Akkordschreie ins Gemäuer. Applaus-Ekstasen bleiben nicht aus. Tonmassen aus Klatschen und Jubeln branden nach der Uraufführungspremiere von „Kain und Abel“ auf die Bühne zurück. Der Applaus für „Verklärte Nacht“ ist – wenn das nicht täuscht – bewegter, herzlicher, ehrlicher. Die Wiener Moderne lebt.