„Agrippina” in München, inszeniert von Barrie Kosky

Muttermonster

Georg Friedrich Händel: Agrippina

Theater:Bayerische Staatsoper, Premiere:23.07.2019Regie:Barrie Kosky Musikalische Leitung:Ivor Bolton

Einen ganzen Abend lang hatte Agrippina, die Gattin von Kaiser Claudio, Ränke geschmiedet und alle gegen alle ausgespielt, da bröckelt plötzlich ihre Fassade und sie singt, im seidenen Schlafanzug am Boden liegend von „Pensieri, voi mi tormentate“, von den Gedanken, die sie quälen. Da wird deutlich, wie mühsam und verdammt anstrengend es war, pausenlos intrigieren zu müssen, um den Sohn auf den Thron zu hieven. Und auch kurz vor Ende, bevor die von Agrippina geschürzten Knoten ausgerechnet durch sie gelöst werden, hält sie inne, ohne dass man wüsste, an wen sie sich mit diesen Worten wendet: „Wenn du Frieden willst, o geliebtes Antlitz, soll der böse Hass dich fliehen“. Am Ende bekommt Ottone seine Poppea und Claudio verzichtet zugunsten seines Sohns Nerone auf den Thron, aber alle wenden sich von Agrippina ab, die zu melancholischer Musik Händels aus „Il Penserosos ed il Moderato“ allein zurückbleibt, während sich die schwarzen Jalousien des die leere Bühne bestimmenden, dreiteiligen kalten Metall-Kubus mit integrierter Treppe (Bühne: Rebecca Ringst) wie eine Gruft um sie schließen.

Alice Coote ist die ideale Verkörperung dieser machthungrigen Frau, die schon gleich zu Beginn, wenn sie verschiedene Möglichkeiten von Trauer und Gram über den vermeintlich im Meer ertrunkenen Gatten ausprobiert, ihre abgründige Lust an Verstellung und Lüge offenbart. Jeder Ton dieser Frau kann Gift spritzen oder verführen, aber auch bis ins Mark erschüttern beim Abrutschen in die dunkle, laute Bruststimme. Wenn Agrippina, geradezu besoffen vom eigenen, vermeintlich erfolgreichen Ränkeschmieden zum Mikro greift und, das Publikum im Prinzregententheater immer fest im Blick, über die Bühne tanzt, wird deutlich, wie sehr diese Frau dem Wahnsinn nahe ist.

Regisseur Barrie Kosky war es wichtig, diese Risse in der Fassade der Machtgier zu zeigen und aus Agrippina keine „Denver-Clan“-Joan-Collins zu machen. Doch gleichzeitig herrscht um diese so vehement ihre Ziele verfolgende Frau das pure Chaos aus mehr oder minder schwachen Männern, die sie zu benutzen weiß: So die Höflinge Pallante (der profunde Bass-Buffo Andrea Mastroni) oder Narciso (der prägnante Charakter-Counter Eric Jurenas), die ihr blind ergeben sind und die sie gleich zu Beginn in einer herrlichen Slapstickszene hündisch gefügig macht, auf dass die Männer ihr buchstäblich zu Füßen liegen und ihr die Stiefel lecken. Auch Sohn Nerone ist ein blasses Jüngelchen ohne Rückgrat, das permanent den Kopf einzieht und keinen Schritt aufrecht gehen kann, sich abschirmend von der bösen Wirklichkeit durch einen schwarzen Kapuzenpulli und sich wappnend gegen alle Unbill mittels eines Tattoos auf dem blanken Schädel. Countertenor Franco Fagioli spielt und singt das famos: immer ein bisschen weinerlich, aber auch im vollen Bewusstsein, mal mächtigster Mann des Imperiums zu werden, was eine seltsam naive Lust und Eitelkeit in ihm auslöst. Ganz anders sein Vater Claudio (mit Mut zur Komik: Gianluca Buratto), nicht nur dank der tiefen Stimmlage gesettelt, sondern auch seiner Herrschaft und Macht bewußt. Doch wird er zur lächerlichen Figur, weil er wie so viele reiche, mächtige Männer glaubt, dass ihm dann auch die jungen Mädchen ergeben sind. So macht er sich mit Ottone und Nerone beim wunderbar à la Boulevardtheater inszenierten Dreier-Versteck-Spiel zwischen Tresen, Barhockern und Sofalandschaft in den weißen Gemächern Poppeas zum Deppen, immer wieder die Hose auf Halbmast wie auch Nerone.

Ottone macht auch hier die beste Figur und ist die einzige ehrliche Haut in der Oper. Er offenbart nicht im beständigen Beiseite-Singen den Abgrund seiner wahren Gefühle und Pläne, weil er sich nicht zu verstellen braucht. Dieser dritte – und beste – Counter im Bunde, Iestyn Davies, spielt und singt als Ottone seine Liebe zu Poppea anrührend und mit großer Wärme in der Stimme, so dass man echtes Mitleid empfindet mit diesem feinen, zarten Mann, dem alle dank der Intrige Agrippinas übel mitspielen, ja ihn unter Gelächter krankenhausreif schlagen. Blutüberströmt singt er unmittelbar vor der Pause eine der schönsten Arien der ganzen Oper, ein Lamento mit dramatischem Recitativo accompagnato.

An schönen Arien – aber auch je einem Duett, Terzett und Quartett – überreich ist „Agrippina“, komponiert vom 24-jährigen Händel, dem damit in Dichte und musikalischer Differenzierungskunst sein erstes Meisterwerk  gelang. Dieses Niveau wird er später – etwa mit „Giulio Cesare“, „Alcina“, „Ariodante“ oder „Orlando“ – noch oft erreichen, aber kaum übertreffen. Jede Figur bekommt ihre eigene Musik, Poppea beispielsweise verführerisch gurrende, heiter flirrende Koloraturen, die Elsa Benoit mit umwerfend glitzernder Brillanz singen kann und dabei sehr feminin lockend spielt, Nerone sind eher bizarr gezackte Floskeln vorbehalten, während Claudio übertriebene und somit lächerliche Grandezza vor sich herträgt. Doch keinen der Charaktere verrät der Komponist, so sehr das brillante Libretto es manchmal nahelegt. Barrie Kosky aber gelingt die Quadratur des Kreises: mit ausgefeilter, sehr musikalischer Personenregie formt er durchaus vielschichtige, manchmal pralle Charaktere, lässt dabei aber keine Volte in der Situationskomik aus. So hält er das Geschehen in herrlichem Fluss und lässt keinen Moment Langeweile aufkommen.

Ihren nicht minder wichtigen und gewichtigen Teil leisten die Mitglieder des Staatsorchesters mit einem teils von Spezialisten gespielten Continuo aus Harfe, Theorbe, Cello und zwei Cembali unter Ivor Bolton. Er setzt wie üblich seine Musiker förmlich unter Strom, überspannt aber nie den Bogen in Tempo oder Expression, modelliert dafür jede Facette dieser reichen Partitur mit Verve und Lust am Effekt.

Fazit: Eine große Festspielpremiere, bei der für jede Sängerin und jeden Sänger der Applaus gewaltig aufbrandete, ein einsames, trotziges Buh für die Regie aber nur eine Verdoppelung der Ovationen bewirkte.