Philipp Kochheim inszeniert "Ragtime

Musical gegen Rassismus

Stephen Flaherty: Ragtime

Theater:Staatstheater Braunschweig, Premiere:18.09.2015 (DE)Autor(in) der Vorlage:Edgar Lawrence DoctorowRegie:Philipp KochheimMusikalische Leitung:Georg Menskes

Hightech-Lautsprecher beschallen den holzvertäfelte Retroguckkasten mit Schellackplattenknistern. Aber nostalgisch wird die Atmosphäre nicht.

Einwanderer kämen auf Lumpenschiffen aus den Kloaken Europas, höhnen ängstlich die bereits auf der Bühne Heimischen – und verzichten auf jede Art Willkommenskultur. Junge schwarze US-Amerikaner werden auf offener Straße von Sicherheitskräften getötet. Eine bürgerlich bestens situierte, tödlich gelangweilte Frau verlässt ihren Ehemann – und gründet mit einem Immigranten eine Patchworkfamilie. Die Ausbeutungspolitik großer Unternehmen lässt die Kluft zwischen Armen und Reichen weiter auseinanderklaffen. Menschen dunkler Hautfarbe werden von weißen Rassisten gedemütigt, entwickeln im Opfer-Modus der gesellschaftlichen Marginalisierung eine Strategie der Vergeltung, greifen zur Waffe und erklären der christlichen Mehrheit den Krieg. Die Frage, wie mit den Anderen, dem Fremden umzugehen ist, entzweit die Generationen.

Obwohl sie in New York, 1906, spielt, bietet die deutsche Erstaufführung des 1996 im kanadischen Toronto uraufgeführten Broadway-Musicals „Ragtime“ ein wahrlich üppiges Bouquet knallhart aktueller Themen – ohne dass Philipp Kochheim auch nur einmal darauf besonders hinweist. Der Regisseur hält das Braunschweiger Staatstheaterpublikum für ausreichend assoziationsstark – und das ist gut so. Mit der historisierenden, von Dokufilmzuspielungen kommentierten Kostümpracht und dem in jeder Szene detailfreudigen bis überbordenden Bühnebildprunk, durch den sogar ein nachgebautes Ford-T-Modell stottert, sowie dem üppigen Personalaufwand lassen sich all die Problemlagen dem klassischen Samstagabendmassenpublikum wohl einfacher vermitteln als mit interaktiven Performances und Experten des Flüchtlingsalltags. Auch wenn unser Hier und Heute mit dem Handlungsort zur Handlungszeit kaum zu vergleichen ist.

Ragtime lieferte der US-amerikanischen Nation vor dem 1. Weltkrieg den Rhythmus einer hektischen Aufbruchstimmung, eröffnete ein neues Jahrhundert, heißt es im Stück. Und damit wird nicht nur auf den nicht mehr fließenden, synkopisch zerrissenen Zweiviertel-Takt dieses Vorläufers der Jazzmusik angespielt, sondern auch auf eine Umbruchszeit. Industriealisierung, Zuwanderung, Weltmachtstreben – und der bisher alltägliche Rassismus wird nicht mehr selbstverständlich akzeptiert, der Ausdruck Nigger langsam politisch unkorrekt. Bürgerrechts- und Arbeiterbewegung formieren sich.

Sehr hübsch symbolisch illustriert das Katie Farkas’ Choreografie. Sie nutzt die Eigenart des Werks, nicht einer zentralen Figur zu folgen, sondern beispielhafte Vertreter dreier Bevölkerungsgruppen auf die Bühne zu holen. Da stehen die Einwanderer mit Hut und Koffer in abgerissen Kleidern, tanzen aus der Schultern heraus Optimismus-fidel mit ihren Oberköpern. Da sind die schnieke behüteten Afroamerikaner, die aus den Lenden heraus den wiegend elegantesten Motionskanon ausführen dürfen. Und da ist die weiße Mittelschicht, puppig stocksteif ihre Körperlichkeit in Kleiderplunder verhüllend, nur mit dem Fußgelenk mal einige Minimalbewegungen wagend. Schließlich kreistanzen die Immigranten neugierig um die Arrivierten herum, die wiederum die Schwarzen einkreisen. Während einige Aufrührer immer wieder versuchen, die Tanz-Gruppen zu vermischen. Was eher Panik- denn Spaß-Blicke zur Folge hat.

Anders geht es im Orchestergraben zu. Charmant sparsam vom Ragtime-Klavier begleitete Dialoge sind zwar zu erleben, einige Titel werden auch mal herrlich bluesig oder gospelnd intoniert, aber meist wird den zitierten afroamerikanischen Klängen wie auch dem Klezmer der jüdischen Einwanderer die Leitkultur europäisch romantischer Sinfonik in dröhnender Banalisierung übergestülpt: Unter Pathoswallungen ersticken vitale Feinheiten, Balladenkitsch erschlägt Gefühle. Da kann der musikalische Leiter Georg Menskes gar nichts dafür, es fehlt dem Komponisten Stephen Flaherty einfach ein eigenständiger Zugriff, wie ihn etwa die Kollegen Leonard Bernstein oder George Gershwin pflegten. Dabei wird in einigen Passagen hörbar, dass das bestens aufgelegte Staatsorchester auch mit rhythmisch forciertem Bigband-Jazz keine Probleme, sondern großen Spaß hat. Herausragend an diesem Abend aber sind die Chöre der zunehmend revolutionärer gestimmten Arbeiter- und Arbeitslosenmassen. Das Ensemble weiß darstellerisch zu überzeugen, ist sängerisch gut, aber nicht sehr gut.

Wie der Autor der Vorlage, Edgar Lawrence Doctorow, versucht auch die Musicalfassung ein opulentes Gesellschaftsdrama, moralischer Appell und psychologisches Kammerspiel zu sein, indem sie Fakten und Fiktionen mischt. Die Rahmenhandlungen um die Michael-Kohlhaas-Geschichte des Musikers Michael Coalhouse Walker jr., der in der Illusion lebt, ein Recht auf Gerechtigkeit zu haben, ist gut erfunden. Aber auch der Realität abgeschaute Figuren kommen zu Wort – wie Henry Ford, die Anarchistin Emma Goldman, Eisenbahnmogul John Pierpont Morgan, der Republikaner Charles Seymour Whitman und der für Gleichberechtigung zwischen Schwarz und Weiß kämpfende Booker Taliaferro Washington. Zauberer Harry Houdini wickelt sich nebenher aus Zwangsjacke  und Eisenkettenkostüm, zersägt auch eine Frau.

Richtig modern wirkt die Bühnenfassung, wenn sie ein Happyend verweigert. Coalhouse wird gerade in dem Moment erschossen, als ihm ein faires Verfahren gegen seine fremdenfeindlichen Peiniger und Schadensersatz zugesichert wurde. Und die Bühnenfassung wird dann gleich wieder ziemlich altmodisch, wenn sie einen Epilog dranhängt, der rühren sollend die Phantasmagorie vom Schmelztiegel der Zuwanderer beschwört, den Traum einer multiethnischen, solidarisch starken Nation. Was gerade nach der Ära Obama doch eher nach Hollywood klingt denn nach konkreter Utopie.

Das Publikum war begeistert von dieser Möglichkeit, das etwas angestaubte Genre Musical als historisch bildendes und sozialkritisch engagiertes Medium zu nutzen: Standing Ovations.