Torben Kessler und Wiebke Mollenhauer vor dem Abstimmungsplan der Kammerspiele am Schauspiel Frankfurt.

Moral am Scheideweg

Dekalog – Die Zehn Gebote

Theater:Schauspiel Frankfurt, Premiere:13.12.2013Regie:Christopher Rüping

Sie stehen auf dem Podest in der Mitte der Bühne, eng umschlungen, die Lippen berühren sich gleich… Was meinen Sie? Küssen oder nicht küssen? Christopher Rüpings Inszenierung des Stücks „Dekalog – Die Zehn Gebote“ lädt das Publikum ausdrücklich zum Mitgestalten des Theaterabends ein. In einer vermeintlich gemeinschaftsstiftenden Übung der Demokratie darf jeder und jede wiederholt für oder gegen eine Windung des Storytelling stimmen und Teil einer inszenierten Partizipation werden. Wer sich wie entschieden hat, können dann auch alle auf dem projizierten Saalplan sehen.

Aber wenn die Partizipation – das Grundgerüst des demokratischen Freiheitsfetischs – inszeniert ist und damit immer schon zum intendierten Teil der Gesellschaft gehört, wo liegen dann unsere tatsächlichen Freiheiten? Die unentscheidbaren Entscheidungen sind die einzigen, die wir Menschen uns überhaupt anmaßen können zu entscheiden, wie Felix von Manteuffel als Professor anfangs erklärt und dabei die Zuschauer zu Studierenden einer Philosophie-Vorlesung macht. Rüping konfrontiert uns mit dieser widersprüchlichen Unmöglichkeit in seiner Ethik-Hölle, treibt das Narrativ der Moral in die Sackgasse, assoziiert schwerverdauliche Begriffe wie Reue oder Schuld mit der Lust am Spiel und tobt sich ganz nebenbei an den vielfältigen Möglichkeiten von Erzählstrukturen aus.

Krzysztof Kieslowski und Krzysztof Piesiewicz schufen Ende der Achziger in Polen den zehnteiligen Film Dekalog, der in Kurzgeschichten über die biblisch-verstaubten Zehn Gebote reflektiert ohne sie nachzuerzählen. In der neusten Bühnenfassung in Frankfurt werden ebenfalls dringliche Fragen nach ethischen Normen und Moral verhandelt, auch gerne mal interaktiv. Wie wird eine Entscheidung gefällt? Kann so etwas wie Moral manipulieren und haben Menschen einen freien Willen?

Die jungen Schauspieler sind etwas aufgeregt, aber das ist für den Enthusiasmus des Stücks nur von Vorteil – ihre Spielfreude überträgt sich spürbar auf die flexible Handlung. Die Melancholie und den Schwermut der Filmvorlage übernimmt dafür die musikalische Kulisse und das immer wiederkehrende Motiv der Tauben (Musik: David Schwarz). Die Mitglieder des Schauspiel STUDIO Frankfurt Wiebke Mollenhauer und Mario Fuchs stehen gemeinsam mit einer verführerischen Franziska Junge, einem sensiblen Torben Kessler und einem weißbärtigen Felix von Manteuffel, der da nicht so richtig reinzupassen scheint, in abwechselnden Rollen auf der Bühne. Die fünf Darsteller geben sich beim Erzählen immer wieder den Staffelstab und überlassen ihre Entscheidungen plötzlich dem Publikum, um die Empathie an die Spitze ihrer Möglichkeiten zu treiben. Was denken Sie, liebe Zuschauer, soll der Arzt das Leben eines Kindes oder eine Ehe retten? Mit der Übergabe der dramaturgischen Verantwortung appelliert die Inszenierung allerdings mehr an die Lust am Spektakel oder an den Spieltrieb als an die Moral des Publikums – zumal die Entscheidungen leere Versprechen der Macht sind, wie sich später zeigt.

Dennoch schafft es die Inszenierung ein Ereignis zu sein und seine eigene Politik zu etablieren ohne auf die unmittelbare ästhetische Wirkung zu verzichten. Das schleichende Gefühl des Ausharrens gehört hier genauso dazu wie die Neugier und das Bloßstellen der Sitznachbarn und ihrer scheinheiligen Urteile. Rüping hatte viel in petto – und gab dem Publikum nur einen Teil preis. Die Eventualitäten und Potentialitäten des Stücks lassen sich nur durch ihre ausdrückliche Nicht-Präsenz erahnen. Nach jeder Abstimmung bleibt der Rest zurück, der nicht entschieden wurde und fragt nach den Möglichkeiten außerhalb einer Mehrheitsentscheidung.Ohne der Gefahr, in populistische Gefälligkeiten abzurutschen, ganz zu entkommen, zeigt Rüping zweifelnde, ratlose aber urteilende Menschen und profitiert dabei von dem interessanten Nebeneffekt, die glanzvolle Idee der Partizipation im Theater als nur scheinbare Möglichkeit zur Veränderung zu entlarven.

Weitere Termine: 19.1./20.1.2014