Foto: Geschacher der Mächtigen. Szene aus "Jeanne d'Arc au bucher" an der Oper Frankfurt mit Johanna Wokalek (in Jeans) in der Titelrolle. © Barbara Aumüller
Text:Andreas Falentin, am 12. Juni 2017
Honeggers 1938 uraufgeführte „Jeanne d’Arc au bucher“ ist auf der Bühne nicht leicht zu haben. Der Text von Paul Claudel mit seinem ungebrochen katholischen Ethos war mutmaßlich schon zur Entstehungszeit des Stückes nur bedingt konsensfähig. Heute ist er eindeutig schwer zu vermitteln. Dazu kommt eine sehr intellektuelle Dramaturgie, die dennoch nach einer Umsetzung in einfache klare Bilder verlangt und ein fast schizophren anmutender Affekthaushalt. Überlebensgroßes, nahezu klebriges Pathos, fast schüchterne Intimität, hemmungslose Expressivität und gelassene Eleganz bietet dieses dramatische Oratorium – und gerne alles gleichzeitig.
Unanfechtbar ist einzig die Musik. Wenn sie so beseelt artikuliert wird wie vom Frankfurter Opernorchester und –chor unter Marc Soustrot, gehört diese Partitur zu den spannendsten und eigenwilligsten Vokalkompositionen des 20. Jahrhunderts. Bunt schillernde, mal kontemplativ zurück genommene, mal fast grotesk episch geweitete Klangflächen grundieren diese Musik, die voller Effekte steckt, die gerne von den Klavieren, der Celesta oder der Ondes Martenot ausgehen, einem frühen elektronischen Instrument, das vor allem durch Kompositionen von Olivier Messiaen bekannt ist. Der Sologesang hingegen steht kaum im Mittelpunkt, dient als Einlage, wie etwa in der Gerichtsszene, zur Strukturierung der Chorwogen oder als Weiterführung des Orchestersatzes mit vokalen Mitteln, was besonders gut in den Partien der Heiligen zu hören ist.
Um diese greifbar zu machen und gleichzeitig dem dramatischen Geschehen fern zu halten, also ihren Oratoriencharakter zu bewahren, hat Alex Ollé, ein Mitglied der katalonischen Gruppe „La Fura dels Baus“, Claude Debussys frühes Poeme lyrique „La Damoiselle Élue“ an den Anfang gestellt. Sanft wogen die Klangflächen, wabern Wolken über die Bühne. Eine junge, tote Frau artikuliert den Wunsch, ihr glückliches Leben mit ihrem noch lebendigem Mann nach dessen Tod weiterzuführen. In Goldfolie und mit Rauschgoldengelperücke schlendert Elizabeth Reiter Lilien pflückend durch das obere Bühnendrittel. Ollé etabliert einen Bühnenhimmel der Kitsch-Devotionalien, einen leeren Lieschen-Müller-Sehnsuchtsort, der das Pathos, die zeitliche Distanz, aber auch die Kitschlosigkeit dieser Musik genau hörbar macht. Wenn Margarete und Katharina, Johannas Schutzheilige, am Ende vom Bühnenhimmel aus die musikalische Führung übernehmen, irritieren sie nicht mehr, sind einfach organischer Teil des Geschehens und vor allem des Klangs, der durch die vertikale Struktur der Bühne von Alfons Flores wohl noch an Vielschichtigkeit gewinnt.
Auf Erden keine Nationalsozialisten, die Honegger und Claudel bei der Gestaltung der boshaften Richter und Engländer wohl im Sinn hatten, auch kein 100jähriger Krieg, sondern ein nah an die Gegenwart gebautes, für „La Fura“ – Verhältnisse ungewöhnlich handgemachtes, Monster-Gleichnis. Wir sehen eine Welt, die zur Beute der Skrupellosen und Gierigen geworden ist. Deren Szenen sind teilweise auf fast Brecht’sche Weise wurschtig hingerotzt, was ihnen keinerlei Kraft entzieht, im Gegenteil. Der Herzog von Bedford und seine Spießgesellen kommen lässig im Pelzmantel, wenn sie Land und Volk unter sich auftauen, die Herrscher werden als Kinder in Gala-Uniform vorgeführt. Und die ‚einfachen Menschen‘ tragen nur Fetzen am Leibe, suhlen sich verwahrlost in ihrer Not, Aggression und Nacktheit, werden in der Gerichtsverhandlung als Schafe, später einmal als betrunkene Fußball-Hooligans und Karnevals-Fanatiker vorgeführt. Satt werden, Ablenkung und Opfer suchen, sich auf Tribünen zusammenrotten, Wut kanalisieren. Kein fühlendes Wahrnehmen des anderen, nirgends. Selbst das so schön singende Mädchen knechtet den Esel. Ein so erschreckender wie plakativer Blick auf die Welt, der von der Musik deutlich gestützt wird, mal fast rituell wütend, mal hemmungslos ironisch, selten kontemplativ sehnsüchtig.
Von Jeanne d’Arc war bisher nicht die Rede. Und das liegt nicht an Johanna Wokalek. In Top und Jeans steht, kauert sie auf einem kleinen, an einer senkrechten Traverse befestigten Podest, sieht mit Entsetzen auf den Dreck um sich herum, versteht wenig, vor allem nicht, warum sie auf dem Scheiterhaufen steht. Ihre Dialoge mit dem Schauspieler Sebastien Dutrieux, dem ‚aus dem Himmel herabgestiegenen‘ Mönch Dominique, der ihr das in den letzten Lebensminuten darlegen soll, artikuliert sie klar und innig. Aber es entsteht keine Figur. „Jeanne d’Arc au bucher“ ist für eine konzertante Aufführung geschrieben, wo die Sprecherin die Dringlichkeit ihrer Figur aus dem Text und ihrer Haltung dazu entwickeln kann. In der Frankfurter Inszenierung ist die Symbolkraft, auch die Stimmigkeit der Bilder zu groß, als das der subtil elegante, fein motivierte Text der Jeanne dagegen ankäme. Hierzu hätte man ihr eigene Bilder, eigene Aktionen schenken müssen. Ein Scheiterhaufen aus Stühlen und Büchern reicht dafür nicht aus.
So bleibt ein disparater Eindruck dieses musikalisch überwältigenden Abends als eine knallige, aber dringliche Dystopie, die, auf allen denkbaren (auch Meta-) Ebenen, keinen Platz hat für das freiwillig Verantwortung übernehmende Individuum – und also kein Zentrum.