Alessandro Giaquinto, Jonas Fürstenau und Ute Hannig in "Dancer in the Dark", einem spartenübergreifenden Projekt am Staatstheater Stuttgart.

Mitten ins Herz

Patrick Ellsworth: Dancer in the Dark

Theater:Staatstheater Stuttgart, Premiere:28.11.2012 (UA)Regie:Christian Brey/Marco Goecke/Louis Stiens

Konnte das gut gehen, Lars von Triers unter die Haut gehenden Film „Dancer in the Dark“ auf die Bühne zu bringen? Es ging gut, sehr gut sogar. Was wesentlich daran liegt, dass das Schauspiel Stuttgart und das Stuttgarter Ballett in dieser Koproduktion der beiden Sparten des Staatstheaters einen ganz eigenen Weg eingeschlagen haben. Der Tanz lässt anstelle von Björks Songs und der Musicalszenen die Traumwelt auf der Bühne der Spielstätte Nord plastisch werden, in die sich die Fabrikarbeiterin Selma immer wieder vor ihrem schweren Los flüchtet. Selbst kurz davor zu erblinden, opfert sie alles, sogar ihr Leben; denn sie möchte ihrem Sohn Gene dieses Schicksal ersparen und begeht für die Ermöglichung der rettenden Augenoperation sogar einen Mord.

Allein steht Ute Hannig als Selma für einige Momente auf der schwarzen, spiegelnden Spielfläche, ihre zur Seite gestreckten und abgewinkelten Arme hängen nach unten, während der fröhliche Swingsound des Jazzklassikers „Sing, sing, sing“ das Wummern der Maschinenmusik untergräbt. Zwischen der silbrig schimmernden Wand aus Schnürvorhängen, an denen unten kleinen Mikrofone baumeln, kommen die Tänzer auf die Bühne, umgeben die Schauspielerin in zwei Gruppen. Sie greifen die Armhaltung Hannigs auf, bevor ihre Körper sich in mal zappeligen, mal langsamen Bewegungen winden.

Auch wie die Schauspieler im Raum postiert sind, erinnert an eine Choreographie. Oftmals stehen sie weit voneinander entfernt, so dass ihre Stimmen unheimlich-beklemmend durch die Leere und Stille des Raums hallen. Etwa wenn Selma und der Polizist Bill (Jonas Fürstenau) sich in ihre tödlich endende Auseinandersetzung verstricken, weil er, eigentlich eine Vertrauensperson für Selma, deren mühsam erspartes Geld für die Augenoperation ihres Sohnes gestohlen hat.

Dergestalt ist es dem Schauspielregisseur Christian Brey und den Choreographen Marco Goecke und Louis Stiens gelungen, Schauspielaktion und Tanz immer wieder sinnfällig zu verzahnen. Goecke musste krankheitsbedingt für einen großen Teil der Probenzeit aus dem Projekt aussteigen, aber der Nachwuchschoreograph Stiens hat Goeckes spezifischen Stil eigenständig und doch im Sinne seines Lehrers kongenial weitergeführt.

Hinter der puristisch-dunklen Schönheit des Tanzes lauert bei Goecke und Stiens Existenziell-Menschliches. Die zappelnden, sich kurios verdrehenden Tänzerkörper erzählen von inneren Beschädigungen, aber auch von Zartheit, Lebensfreude und Widerstand. Besonders anrührend bringt dies der erst fünfzehnjährige Alessandro, ein Schüler der John Cranko Schule als Selmas Sohn Gene zum Ausdruck. Diese Rolle mit einem Tänzer zu besetzen, ist eine dieser so originellen wie wirkungsvollen Ideen des Inszenierungsteams, die das Theater- und Tanzprojekt „Dancer in the Dark“ vom Film abheben.

Außer Giaquinto hat von den insgesamt zwanzig Tänzerinnen und Tänzern lediglich Angelina Zuccarini eine namentlich zugewiesene Rolle. Als Gefängniswärterin Brenda umkreist sie die auf ihre Hinrichtung wartende Selma wie ein schattenhaftes Alterego und zugleich wie eine Trost spendende Botschafterin einer besseren Welt. Obwohl ohne Worte, weiß auch der Tanz zu sprechen. Ohnehin ist der Textumfang knapp gehalten, denn die Vorlage, Patrick Ellsworths Theaterstück nach von Triers gleichnamigem Film, wurde stark eingekürzt. Die Schauspieler haben also die anspruchsvolle Aufgabe, ihre Figuren vorwiegend durch das nonverbale Spiel auszugestalten, was allen zehn Akteuren mit eindringlicher Intensität gelingt, allen voran Ute Hannig.

Eingebunden in eine so puristisch-abstrakte wie an frappierenden Bildeffekten reiche Gesamtästhetik aus Bühne, Kostümen und Video (Anette Hachmann/Elisa Limberg), Musik (Mattias Klein) und Licht (Udo Haberland) bewirken auf der Theaterbühne die unmittelbare Präsenz von Schauspiel und Tanz, dass die Geschichte von Selma den Zuschauer ins Herz trifft.