Szene aus "Der fliegende Holländer"

Mit Musik segeln

Richard Wagner: Der fliegende Holländer

Theater:Badisches Staatstheater Karlsruhe, Premiere:10.12.2022Regie:Ludger EngelsMusikalische Leitung:Georg Fritzsch

Schrill und hell stürmt die erste heftige Meereswoge aus dem Orchestergraben, Verkörperung der dämonischen Welt des fliegenden Holländers. Dem stemmt sich nach kurzer Pause Sentas Erlösungsmotiv entgegen, orchestral klangselig zart dargeboten. Die Badische Staatskapelle unter der Leitung von Georg Fritzsch musiziert transparent und fein reflektiert. Schon im Beginn macht das musikalische Aufführungs-Niveau der beachtlichen Wagner-Tradition am Staatstheater Karlsruhe alle Ehre.

Freilich setzt bereits die Ouvertüre in Ludger Engels Inszenierung von Richard Wagners romantischer Oper „Der Fliegende Holländer“ erste Fragezeichen. Bei offener Bühne findet gleichsam ein Vorspiel statt. Als Kinder schieben der kleine Holländer und die kleine Senta einen schwarzen Konzertflügel ins Bühnen-Spotlight. Überaus munter hüpfen sie um das Instrument, versuchen auf der Klaviatur zu spielen. Senta blättert auch mal in einem Partitur-Buch, das offensichtlich Heinrich Heines bebilderte, in den „Memoiren des Herren von Schnabelewopski“ erzählte Legende vom ruhelos über die Ozeane schippernden Holländer enthält, der allein von einer treu liebenden Frau erlöst werden könnte. Der ständig als zentrales Bühnenrequisit vorhandene Flügel dient später mal als in den Wellen wogendes Schiff Dalands, wird von bärbeißigen Seemännern an Reepseilen hin und her gezerrt und geht schließlich als Holländers Gespensterschiff in die Brüche. Die Trümmer hängen im Schlussbild goldüberstrahlt im Bühnenhimmel.

Was bringt das „Symbol“  für den Plot, in dem Holländers Sehnsucht nach „Heimat“ und „Treue“ in einer Werte-Diskussion „aus der Ferne längst vergangener Zeiten“ musikdramatisch verhandelt wird?

Stimmliche Vielfalt

Im Ersten Aufzug ist die von einem wehenden schwarzen Vorhang begrenzte Bühne nachtdunkel gehalten, nur die schwarz gekleideten personae dramatis erscheinen im Licht. Wegen eines Sturms hat sich Dalands heimkehrender Segler in eine ruhige Bucht gerettet. Der oft zitierte biographische Hintergrund zu Wagners 1841 entstandener Oper: Denn vier Jahre früher war der junge Kapellmeister-Komponist, hoch verschuldet per Schiff vor seinen Gläubigern aus Riga flüchtend, am Skagerrak in eine lebensbedrohliche Havarie-Situation geraten. Chorisch mitreißend stimmen in Karlsruhe die Seeleute ihr Lied „Mit Gewitter und Sturm“ an, von ihrem Steuermann angeleitet, den Michael Porter mit heiter strahlendem Tenor vorstellt. Er verschläft freilich die Wache. Doch der geld-gierige Kapitän Daland alias Konstantin Gorny hat mit kernigem, tadellos artikulierendem Bass, spielerischem Format und großer Bühnenpräsenz alles im Griff. Da wirft des Holländers Segler, von dem man in Karlsruhe auf Volker Thieles Bühne – wenn man einmal vom besagten Konzertflügel absieht – weit und breit nichts sehen kann, nebenan Anker. Die  Titelfigur erweist sich als düsterer Zeitgenosse, der alle sieben Jahre an Land gehen darf, um (bisher vergeblich) das Weib zu suchen, das ihn von seinem Fluch erretten kann.

Thomas Hall ist nicht nur optisch eine Idealbesetzung. Sein Bariton kann, wie in seiner Auftritts-Arie „Die Frist ist um“, schmiegsam zurückhaltend sein. Aber auch expressiv mit leidenschaftlichem Timbre seine Verzweiflung ergreifend kundtun, wie am Ende, als er sich von Senta verraten wähnt. Zunächst aber geht er auf Dalands Angebot ein, der ihm für Geschmeide und Gold seine Tochter Senta verspricht.

Bei der schwärmerischen Tochter braucht Vater Daland in der Arie „Mögst du, mein Kind“ kaum Überredungskünste, denn die hat Holländers todessüchtige Rastlosigkeit durch Lektüre und ein intimes Porträt längst verinnerlicht, will sein Schicksal mit ihm teilen. In der badischen Metropole ist Dorothea Herbert eine sanglich hinreißende, zwischen Hysterie und mystischer Erleuchtung changierende Senta. Sie beherrscht mit klangschönem Sopran die hochdramatischen Akzente ihrer Rolle genauso wie die verträumt lyrische Kantilene. Ihre Holländer-Ballade „Johohoe! Traft ihr das Schiff im Meere an?“ wird zum Ereignis. Allerdings ist die Umgebung, in der Senta „romantisch“ zu singen hat, ihr Outfit (ein schwarzer Kapuzen-Hoody), zuweilen auch ihr flapsiges Spiel (mal bläst sie die Backen auf, mal kickt sie mit ihren Füßen verärgert an eine Wand) gewöhnungsbedürftig absurd.

Pretty in Pink

Die Stube mit fleißigen Mädchen am Spinnrad wird in Karlsruhe zum schleiflackweiß möblierten, in gleißende Helle getauchten, dreigeteilten Großraum. Links arrangieren Floristinnen Kunstblumen in antike Kübelvasen. Rechts sitzen Näherinnen an ihren Maschinen (was sich Engels von einer wenig erfolgreichen Bayreuther Inszenierung abgeguckt hat). In der Mitte sieht man eine erhöhte, aufgeklappte Kammer, in der Senta neben einem altrosafarbigen Konzertflügel (!) sitzt. Die herumalbernden Mädchen sind mit rosaroten Glitzer-Kleidchen oder weißen Tüllröckchen und wasserstoffsuperoxyd-blonden Perücken ausstaffiert (Kostüme: Heide Kastler). Man glaubt sich in das Spektakel der US-amerikanischen Teenager-Filmkomödie „Pretty in Pink“ versetzt. Immerhin singen die schlüpfrigen Playboy-Bunny-Girls chorisch sehr gut ihr „Summ und brumm, du gutes Rädchen“. Soll die kitschig umflorte Verkleidung ironisch und witzig sein? Dass der mit Daland eintretende Holländer hier seinen Traum erfüllt sieht, gleicht einem Wunder.

Er ist im Duett von Senta bezaubert und beschwört zusammen mit ihr eine legendäre Vorzeit. Da ist  des jungen Jägers Eric Liebesmüh  vergeblich. Ihm ist die Daland-Tochter eigentlich versprochen, was Mirko Roschkowski in diesem Part nicht nur in seiner Kavatine „Willst jenes Tages“ trotz seiner erkältungsbedingten Indisposition mit tenoralem Glanz erschütternd zum Ausdruck bringt. Und auch die Amme Mary (Julia Faylenbogen) warnt Senta umsonst. Im abschließenden Dritten Aufzug erlebt das Premieren-Publikum die Verlobungsfeier mit einer von Opernchor und Extrachor gestellten, kunterbunt gemischten, auch divers-queeren Matrosen- und Mädchenschar. Ihr mit wuchtig-lärmender Pracht intoniertes Chorlied „Steuermann, lass die Wacht!“ bringt die Akustik im ausverkauften großen Haus des Karlsruher Theaters an ihre Grenzen.

Der Holländer, der Sentas Disput mit Eric belauscht hat und falsch deutet, flieht auf sein musikalisch aufwühlend im Meer zerberstendes Schiff. Und Senta stürzt ihm unaufhaltsam nach. Die Wagners „Tristan“-Schluss vorwegnehmende Verklärung bietet noch einmal alle Vorzüge des Karlsruher Theaterorchesters auf. Feinnervig und präzise austariert verdämmert betörender Klangzauber im Orchestergraben. Die pausenlos durchgespielte Aufführung endet mit nachhaltigen Buhs für das Regieteam und begeistertem Jubel für Vokalsolisten, Chor und Orchester.