Foto: Gott (rechts) und Kain, gespielt von Kindernstatisten © Monika Rittershaus/Staatsoper Berlin
Text:Andreas Falentin, am 2. November 2019
Es ist als wäre die Staatsoper unter den Linden für die Musik von Alessandro Scarlatti gebaut. So selbstverständlich entfalten seine raffiniert instrumentierten subtilen melodischen Bögen hier ihre Schönheit. Die Sänger müssen nie forcieren, ihr Piano trägt mühelos bis nach hinten, nach oben in den Zuschauerraum, sie haben Spielraum für nuancierte Gestaltung. Und sie nutzen. Wobei sie die Klarheit, die Demut – wie Dirigent René Jacobs es im Programmheft bezeichnet – nie aus dem Blick verlieren. Und im Graben mischen sich die Instrumentenfarben der Barockinstrumente attraktiv und selbstverständlich und bewahren doch jedes seine ganz eigene Klang-Charakteristik. Kurz gesagt: Musikalisch ein Abend von bezaubernder Schönheit.
Dabei, und gerade aus diesem Widerspruch begreift Regisseur, Bühnen-, Kostümbildner und Lichtdesigner Romeo Castellucci diesen Theaterabend, ist das Sujet eigentlich denkbar unerfreulich. Es geht um den, laut Bibel, ersten Mord, darum, wie Schuld und Tod in die Welt kommen. Die ersten Menschen – Adam, Eva, Kain, Abel – setzt der Librettist Antonio Ottoboni sukzessive dem Macht-Spannungsverhältnis Gott-Luzifer aus und versucht sich dabei sehr sensibel als prähistorischer Familienpsychologe. Seine subtilen, Geistes- und Gefühlsabstufungen setzt Scarlatti mit großem Ernst und großem Charme in schlichtestmögliche aber nie monochrome Musik.
Diese Einfachheit nimmt Castellucci zu Beginn entschlossen auf. Lange schauen die ersten Menschen um Fassung und Zuversicht ringend auf jenes Paradies, in das sie nicht mehr dürfen. Das heißt, sie blicken auf einen Transparentvorhang, hinter dem rätselhaft und nebulös Farben und Formen wechseln und untermalen ihre Gefühle und Betrachtungen durch große, lang gehaltene Gesten. Am Anfang sind Eva ein paar Äpfel auf den Boden gekullert und bleiben dort – als Mahnmal, als Aufforderung, weiter zu leben, als literarischer Bezug. Die Opfer von Kain und Abel werden abgebildet von Nebelmaschinen auf Podesten. Gott breitet sein Jackett über die eine. So raucht nur die von Abel. Alles bleibt sehr einfach, aber die erste Stunde zieht schnell vorbei als eine Art rituelle Reflexion.
Bald nach der Pause erwischt es Abel. Jetzt sind wir in der Oper angekommen, auf einem stilisierten Feld mit Sternenhimmel darüber. Und nach dem Mord ändert sich alles. Castellucci glaubt, dass diese existenzielle Katastrophe, dieser Einbruch von Schuld und Tod, nicht darstellbar ist mit „nomalen“ Theatermitteln, er hat nach einer Möglichkeit gesucht, ihn zu zeigen und doch die Aufführung im Zustand der Kontemplation zu belassen. So werden von hier an die Figuren von Kindern gedoubelt. Sie reproduzieren die großen Gesten aus dem ersten Teil, bewegen (meistens) lippensynchron die Münder und tun oft absichtsvoll des Guten ein wenig zu viel, geben also wunderbare Opernsänger-Parodien ab, während im Hintergrund nach und nach die Menschheit entsteht, aus etwa zwanzig Kinder- und Jugend-Statisten, die Analogien herstellen von Abel und Eva zu Jesus und Maria, den toten Abel-Knaben krönen und vor allem erwartungsfroh jene oben beschriebene Demut ausagieren.
Das alles kann man in Summe auch als Penetranz wahrnehmen. Manch einer mag kleinteilige Aktionen vermissen, auch einen Diskursrahmen, irgendetwas, das außer den Kostümen wahrnehmbar ans Heute anschließt. Wie das etwa in der aus Musik von Scarlatti entwickelten Studioproduktion „Love, you son of a bitch“ ganz selbstverständlich gelungen ist. Aber Castellucci hat eben anderes im Sinn. Bei ihm führt jede szenische Aktion auf die Musik hin. Er bekennt sich explizit und bekennt zur Oratorien-Ästhetik und -Struktur. Schließlich gehört „Il Primo Omicidio“ dieser Gattung an. Und das, man hat es zuzugestehen, wirkt vollkommen ungezwungen. Alle Beteiligten scheinen es gerne zu tun.
Diese sind abschließend noch zu preisen: Das B’Rock Orchestra mit seiner nie überbordenden Dynamik, mit seiner rhythmischen Präzision und musikantischen Lockerheit. Die Kinderdarsteller, die unheimlich gut zu den Sängern passen. Immer wieder staunt man über Kongruenzen in der Körpersprache. Das Gott-Kind etwa hat eine gewaltige Bühnenpräsenz und keinerlei Hemmungen, was wunderbar mit Benno Schachtner gestalterischer Souveränität und wahrhaft göttlicher stimmlicher Süsse korrespondiert. Brigitte Christensen ist eine schlichte, aber sehr lebendige Eva, Thomas Walker ein warmherziger, hochintelligent gestaltender Adam. Natürliche Artikulation, organische Tonproduktion ist hier wichtiger als brillante Koloratur, der organische Stimmsitz scheint geradezu Bedingung zu sein für die Wiedergabe dieser Musik. Olivia Vermeulens Abel erfreut nicht nur durch diesen, sondern durch großen, dynamisch fein abgestuften Charme und pure Schönheit des Timbres. Das ist bei Kristina Hammarström leicht verschattet. Was hervorragend zu Kain passt, genauso wie die unruhige Mensurierung der schlank geführten Stimme, die sie nie einebnet, sondern immer produktiv macht. Arttu Kataja glänzt als Luzifer mit der für tiefe Männerstimmen charakteristischen dynamischen Wucht, verlässt aber nie seine rollentypisch gezackte Gesangslinie. Und René Jacobs scheint das Ziel zu haben, im Werk zu verschwinden, es einfach vor unseren Ohren entstehen zu lassen. Und das gelingt ihm.