Lukas Holzhausen (Amphityon) und Tabitha Frehner (Alkmene)

Menschen ohne Götter

Heinrich von Kleist: Amphitryon

Theater:Schauspiel Hannover, Premiere:20.06.2021Autor(in) der Vorlage:MoliéreRegie:Stephan Kimmig

Die Sache ist komplex. Und aktuell. Und sie ist in Blankversen aufgeschrieben. Denen muss man sich stellen. Das hat der Regisseur Stephan Kimmig auf der Ballhof-Bühne am Staatstheater Hannover eindeutig getan. Die fünfhebigen Jamben hat er zum Leben gebracht: Sie erzählen, sie erschrecken, sie amüsieren. Manchmal sind sie so straff gespannt, dass sie einem, losgelassen, so richtig um die Ohren fliegen.

Kimmig hat Kleists Tragikomödie auf 100 Minuten Theater konzentriert. Und er hat zwei Veränderungen in der Dramentruktur vorgenommen. Jupiter und Amphitryon werden wie die niederen Anatagonisten, Sosias und Merkur, von nur einem Schauspieler, einer Schauspielerin, im Wortsinn, verkörpert. Der Konflikt um die Identität, dass man plötzlich nicht mehr der ist, der man ist und doch nicht aufgeben will und kann, was man hat, ist nur noch in den Worten und in den Körpern von Lukas Holzhausen und Amelle Schwerk. Denn Sosias, der Diener, ist hier, der zweite wesentliche Eingrif des Regisseurs, Sosia, eine Frau. Und Charis, ihre Frau, ist Charos, ihr Mann.

Das hat zunächst ganz praktisch zur Folge, dass der ohnehin lange Anfangsmonolog noch länger wird. Denn es folgt ja die Szene Sosias mit Merkur(ia?), also Schwerk mit Schwerk. Dass sie diese ungeheuer lange Strecke schauspielerisch triumphierend übersteht, bedeutet bereits den Sieg der Aufführung. Denn mit ihrer umwerfenden Mischung aus Virtuosität, Urkraft und Echtheit, der so oft ventilierten Authentizität, vermittelt Amelle Schwerk wie nebenbei das Prinzip der Aufführung. Sosias und der Götterbote sind jeweils ein Mensch, ist die Behauptung, sind zwei Seiten eines Charakters im Herrschaftskampf. Dass Sosia sich so leicht aufgibt, ist traurig, fast tragisch. Vor allem aber ist es komisch. Und wenn Lukas Holzhausens Amphitryon die gleiche Spaltung widerfährt, ist das genauso komisch. Auch weil Schwerk ihre, Sosias, Schizophrenie leiser, fließender ausspielt als Holzhausen Amphitryons. Der poltert und wütet und strahlt und wird klein.

Natürlich hat das Verfahren logische Lücken. Immer wieder sind ja die in einem Spieler, einer Spielerin zusammengefassten Figuren zeitgleich an verschiedenen Orten, was genau das ist, was die ungespaltenen Figuren, Alkmene und Charos, so in Verwirrung stürzt. Dieser Widerspruch kann nicht aufgelöst werden. Kimmig versucht es mit Psychologisierung, lässt Alkmene oft zittern und in einem stummen, von Michael Verhovecs Musik wummernd und durchaus geheimnisvoll untermalten Prolog, das vierköpfige Ensemble kriegstraumatisiert tun. Ist doch Amphitryon Feldherr und war lange im Krieg, ist Sosia seine Soldatin, waren die Ehepartner lange verlassen und in Sorge. Aber das macht die Setzung nicht plausibel.

Kleists Text lässt sich so nicht zähmen. Es entsteht sozusagen ein Graben zum Stück. Aber in diesem gelingt fantastisches Theaterspiel. Tabitha Frehners Leidenschaft (als Alkmene) reißt mit. Immer wieder kann man sie förmlich denken sehen, ist dabei, wie sie verzweifelt versucht, zu verstehen, was jetzt mit ihr ist und mit ihrem Mann und mit ihrem Selbstbild und ihrer Würde. Ihr berühmtes Schluss-„Ach!“ hat bei Frehner nichts Poetisches oder Wütendes, schließt nur noch das Chaos zu, lässt aber offen, ob es hier um Fülle oder um Leere geht, ob irgendwas noch mal so wird, wie es vielleicht mal gewesen ist. Und Fabian Dotts sensibler, leidensfähiger Charos hält mühelos mit den Kollegen mit. Was Schwerk und Holzhausen anstellen, ist, wie schon gesagt, schlicht an- teilweise auch aufregend, brillant und charmant, sinnlich und uneitel. Dazu kommt eine überaus stimmige Optik. Katja Haß hat eine gewaltige Wand in den Ballhof 1 gebaut, bühnenhoch mit einer Tür für Alkmene auf halber Höhe und einem Durchschlupf für Charos. Amphitryon und Sosia können sie nicht überwinden. Und Anja Rabes‘ Kostüme sorgen für sinnliche Reize. Schwarz-Weiß-Grau für die Menschen, mit vielen anspielungsreichen Details, korrespondiert mit Jupiters golddurchwirktem Hemd und dem blauen Oberteil mit silberner Schmuckapplikation, das aus Sosias Overall entbunden wird, wenn Merkuria dran ist. Der Geschlechterwechsel macht übrigens hier noch mehr Sinn als in Kimmigs Hannoveraner „Platonowa„-Inszenierung 2019, weil so das Gender-Thema, das in den einzelnen Szenen durchaus tragend ist, im Gesamtkontext zurückgefahren wird.

So geht es eben hauptsächlich darum, wie sehr ein Mensch von seiner Identität abhängig ist, von der Vorstellung, die er von sich selbst hat und mit der er sich von anderen unterscheiden will. Und dieses Thema ist, noch einmal sei es gesagt, aktueller denn je – und bei Kleist ungeheuer differenziert vorgeprägt.