Foto: Ensemble der Bayerischen Staatsoper in "Giuditta" © W. Hoesl
Text:Roberto Becker, am 19. Dezember 2021
Noch Operette oder doch schon Oper? So ganz klar ist das bei nicht – auch nicht bei Christoph Marthaler. Der hat gerade an der Bayerischen Staatsoper Franz Lehárs „Giuditta“ herausgebracht. Zumindest ist das Titel der Premiere. Aus dieser 1934 mit sensationellem Erfolg in Wien uraufgeführten letzten Lehár-Operette sind vor allem zwei Ohrwürmer fest im kollektiven Gedächtnis verankert: „Freunde, das Lebens ist lebenswert“ und „Meine Lippen, die küssen so heiss“.
Den Hit, mit dem auch Richard Tauber Erfolge feiert, über das lebenswerte Leben schmettert Daniel Behle in der Rolle des Octavio gleich zu Beginn dieses sonderbaren Abends ziemlich unvermittelt aber mit sicherer Höhe und gut dosierter Leidenschaft über die Rampe in den Saal. Mit dem zweiten Hit entzückt Vida Miknevičiūtė in der Titelpartie einer Barsängerin mit Carmen-Aura und einer etwas klirrend vibrierenden, aber imponierenden Höhe. Dieser Divenauftritt im Zarah-Leander-Format kommt auch beim Publikum im Saal an, das jeden aufschäumenden Lehár-Ton, den Titus Engel dem Bayerischen Staatsorchester entlockt, gierig aufsaugt. Der Saal ist diesmal wieder auf Lücke besetzt, von einem 2G+-Publikum. Dass die Masken richtig sitzen, wird freilich vom erschreckend überkorrekten Aufsichtspersonal, dank der freigelassenen Sitzreihen aktiv überwacht.
Faszinierende Mischung
Aber sei’s drum: Die gute Nachricht ist, dass die Kultur selbst im preußisch Bayern mal nicht als erste dran glauben musste. Aus dem Fluss von Musik und Bühnengeschehen riss das gleichwohl nicht. Das hatte nämlich schon Marthaler gründlich zerlegt, mit Zeitgenossen des Königs der silbernen Operettenära angereichert und neu zusammengesetzt. Zu einem Stück Marthaler-Theater mit Musik für das er all seine bewährten (man könnte auch sagen abgenutzten) und zigfach durchdeklinierten Stilmittel einsetzt.
Daniel Behle sprach im Vorfeld davon, dass der Abend noch 51% Lehár enthält. Die neue Fassung ist mit Liedern und Orchesterkompositionen von dessen Zeitgenossen angereichert, die durchweg zu den Opfern und Gegnern des Regimes zählten, in dessen Dienste sich Lehár gestellt hatte: B. Bartók, H. Eisler, G. Klein, E.W. Korngold, E. Krenek, A. Schönberg, D. Schostakowitsch, I. Strawinsky, V. Ullmann. Dazu ist das Ganze mit Dialogen aus Ödön von Horváths „Sladek oder Die schwarze Armee“ aus dem Jahre 1928 angereichert, verfremdet oder verdeutlicht – je nach Bereitschaft, sich auf derlei Experimente einzulassen. Alles, was hier nicht von Lehár stammt, verstärkt die Melancholie des Abschieds, die die scheiternde Liebesgeschichte zwischen Giuditta und Octavio umweht, und die zugleich auch eine des Abschieds vom Genre ist.
Dass der grenzüberschreitende Theatermann Marthaler, der jedes Schauspiel, das er sich vornimmt, musikalisch untersetzt, auch umgekehrt einem genuinen Musiktheaterstück Elemente von Schauspiel hinzufügt, ist nur konsequent. So komplettieren bewährte Marthaler-Mimen das Personaltableau: wie Olivia Grigolli (als Fräulein Schminke), Ueli Jäggi (als Knorke), Raphael Clamer (als Horst) oder Marc Bodnar (als Giulietta-Verehrer Lord Barrymore) oder Altea Garrido, die als Choreographin vorbereitend und im Stück als schwarz gekleidete Verkäuferin schwarzer Luftballons mitwirkte. Sie sprechen die Dialoge und singen Chorpassagen.
Weder Operette, noch Oper
Wie immer bei Marthaler überlagern sich die Paralleluniversen. Mit einem autonomen, teils illustrierenden, teils konterkarierendem Eigenleben. Immer wenn die Musik zum großen Ton und dem Schwelgen im Pathos ansetzt, stellt sich Marthaler szenisch auf die Bremse. Dann lässt das Bühnenpersonal in seinen Stühlen und Sesseln erstarren. Oder er lässt den Bühnenslapstick eskalieren. Von zuckenden Sängern an der Rampe bis zu den so sinnfreien wie virtuosen Aktionen, mit denen Joaquin P. Bella und Sebastian Zuber abgehen und einmal auch den ganzen Saal räumen. Den hat Anna Viebrock für ihre Verhältnisse als vergleichsweise intakten Saal mit Bühne im Hintergrund und einem kleinen Separee an der Seite kreiert.
Bei den Kostüme imaginieren die Uniformen das drohende Unheil der Entstehungszeit und die übrigen Kostüme eher die Hoffnung, dass es so schlimm nicht kommen mag. Von diesem grundsätzlich gegenläufigen Zugriff bei Szene und Musik ist ausgerechnet das unwiderstehlich betörende Zitat aus Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“ ausgenommen. Wenn Anna (Kerstin Avemo) und Sladek (Sebastian Kohlhepp) – die beiden Horvath-Figuren übernehmen den Part von Lehárs Anita und Pierrino – sich im „Glück das mir verblieb“ in einer surrealen Szene verlieren (Anna ist das schon den Mördern des Horvath Stückes zum Opfer gefallen). An dieser Stelle gibt es keine mutwilligen Bremsversuche oder Hampeleien und die Nummer provoziert den Szenenapplaus, der die Buh-Rufe zu einem instrumentalen Gewitter-Slapstick davor wieder ausgleicht.
Was es als vorweihnachtliche Premiere in München gab, war weder die angekündigte Spieloperette von Franz Lehár, noch die zur Oper uminszenierte „Giuditta“. Es war ein Stück Marthalertheater zu einer Musikmelange, die die Uraufführungszeit weiträumig umfasst. Nicht mehr und nicht weniger. Beim Pro und Contra für das Inszenierungsteam zum Schlussapplaus meldete die Fraktion, die haben wollte, was angekündigt war, lautstarken Protest zu diesem zugegeben kühnen Experiment an. Auch der Beifall für die sich wacker schlagenden Protagonisten wirkte etwas gebremst. Was zum Teil auch an den ausgedünnt besetzten Parkettreihen gelegen haben mag.