Foto: Szene mit Alex Kim, Sara-Maria Saalmann und Richard Köllner © Christina Iberl
Text:Roland H. Dippel, am 24. Februar 2024
Das Staatstheater Meiningen zeigt „Gespenster” – frei nach Henrik Ibsen – als Opernuraufführung von Torstein Aagaard-Nilsen. Die Librettistin Malin Kjelsrud löst sich deutlich von Ibsens Vorlage und stellt das gestörte Mutter-Kind-Verhältnis ins Zentrum, während Ansgar Haags Inszenierung nah an der Partitur bleibt.
Nach vier Jahren Verzögerung gelangte Torstein Aagaard-Nilsens erste Oper endlich zur Uraufführung. So kam es zum Triumph eines Produktionsteams, dessen Meininger Ägide 2021 endete. Philippe Bach dirigierte die Auftragskomposition mit hoher Sensibilität, Intendant a. D. Ansgar Haag führte Regie mit Blick auf das Wesentliche. Das Publikum jubelte zur Musiktheater-Uraufführung im großen Haus.
In der großen Tradition, an welche sich die Meininger Museen derzeit mit einer Sonderausstellung zur 150. Wiederkehr des Beginns der Gastspielreisen des Meininger Hoftheaters erinnern, hatte Ibsen besondere Bedeutung. Dort fand am 21. Dezember 1886 die erste genehmigte Theateraufführung von „Gespenster“ in deutscher Sprache statt und wurde wie überall zum Skandal. Der Norweger Torstein Aagaard-Nilsen vertonte 40 Jahre nach Antonio Bibalo erneut Henrik Ibsens Schauspiel „Gespenster“.
Eine Komposition voller Zitate und Stilanleihen
Die Autorin und Zeichnerin Malin Kjelsrud griff in Ibsens Text energisch ein, was aus der Vertonung weniger plastisch hörbar ist. Aagaard-Nilsen genießt es, für Stimmen zu schreiben. Erst wenn sich Ibsens Konflikt auflöst, kommt es zu weiter ausholender Exaltation des Gesangs. Diese legitimiert der Komponist mit Zitaten und Stilanleihen aus „Lucia di Lammermoor“, Strauss „Ariadne“, auch Wagner und Debussy oder Bachsche Strenge.
Dabei bietet die Libretto-Adaption Psycho-Zündstoff, welcher weit über Ibsens vormalige Geschlechterkampfpointen hinausschießt. Malin Kjelsrud machte mehrere Episoden zu direkter Handlung, die bei Ibsen erzählt werden. Die „Gespenster“ der Vergangenheit sind also voll sichtbar in der zweiten Hälfte des 20., nicht mehr des 19. Jahrhunderts. Haags Regie setzt auf Simulationskraft mit filmischen Mitteln. Dieter Richter schuf für diese ein Couch-Ensemble in einem großzügigen Raumgefüge mit beweglicher Holzwandschale. Darüber dräut ein Rundhorizont mit den Schollen aus Caspar David Friedrichs „Eismeer“. Die Meininger Hofkapelle bleibt präsent auch in der Zurückhaltung. Die Partitur hört den Figuren zu und taucht in deren versehrte Psychen ein.
Die Hauptfigur ist gespalten in jung und alt
Die Autorin ist fasziniert von der hohen Dunkelziffer männlicher Opfer durch frauliche Gewalt. Ihre Hauptfigur Helene Alving ist in zwei Partien gespalten: eine jüngere Leidende und eine ältere Wissende. In der Oper geht die Mutter in den Tod, während der Sohn Osvald mit Regine in eine mutterlose Lebenszone davon tollt. Osvald und die von ihm geliebte Regine Engstrand sind in der Oper keine leiblichen Halbgeschwister. Er entstammt nicht Helenes Ehe mit dem ungeliebten Erik, sondern ihrem einmaligen Seitensprung mit dem Pastor Gabriel Manders.
Ansgar Haag ist sich einig mit der Partitur, die für alle Figuren eine fast karitative Sympathie hegt und sich nach der Pause mit Expressivität auflädt. Dazu staffierte Kerstin Jacobssen die Figuren mit dem Chic gehobenen Boulevardtheaters aus. Vor allem Osvald mit Joseph-Beuys-Hut und Mantel brachte ein anderes Flair ins Geschehen, welches die Paris-Sehnsucht der Jungen fast zur Karikatur machte. Unter dem Ausgleichsklima der Inszenierung leidet Marianne Schechtel als gereifte Helene etwas, Prüderie- und Reue-Stromstöße zeigt sie mit exzellentem Gesang.
Weitaus mehr vulkanische Energie artikuliert Sara-Maria Saalmann als junge Helene. Shin Taniguchis konturierter Bariton und starke Persönlichkeit geben dem Pastor Manders eine imposante Autorität. Glasklar in Koloratur, Ausdruck und Intensität gelingt Monika Reinhard als Regine Engstrand eine Leistung von prächtiger Sauberkeit und hoher innerer Kraft. Alex Kim gibt einen auch tenoral einnehmenden und moralisch gereinigten Vater Erik Alving. Emma McNairy setzt intensiven Lockrufe als bei Ibsen nicht auftretende Mutter Regines. Der ukrainische Tenor Mykhailo Kushlyk verdeutlicht mit lyrischer Expression und Weichheit die Flucht Osvald Alvings aus den Mutterfittichen heraus und wieder zurück.
Mikko Järviluoto gibt den zwar freisinnigen, aber nicht das Beste für Regine wollenden Ersatzvater Jacob Engstrand als Fremdkörper mit Hippie-Anwandlungen. Im noblen Hintergrund hielt sich der Chor in Roman David Rothenaichers Einstudierung auf hohem Niveau. Die Größe der geschärften Konflikte bleiben bei dieser Uraufführung in einem „Puppenheim“, aus dem es Ibsens rebellierende Frauenfiguren doch hinaustreibt. Bleibender Eindruck ist also der riesige Kontrast zwischen Ibsens unmissverständlichen Andeutungen und dem in der Oper deutlich ausgebreitetem Psycho-Unrat.