Foto: Das Ensemble zeigt extreme Emotionen. © Yan Revazov
Text:Hartmut Regitz, am 1. November 2025
Marcos Morau zeigt am Staatsballett Berlin seine Choreografie „Wunderkammer“. Darin lässt das Ensemble Gefühlsausbrüche wie Gegenstände plastisch werden. Ein imposanter Abend mit beeindruckenden Bildern.
Viel Licht ist nicht in der Bühnenfinsternis. Auch nicht Musik. Ein paar Akkorde quält Jan Casier aus seinem „gebrochenen“ Akkordeon, das Marcos Morau bei seinem Vorspiel auf dem Berliner Schillertheater in den Mittelpunkt stellt. Und doch scheinen sie zu genügen, um auch andere auf den Plan zu locken. Schattenhaft umkreisen sie den einzigen, der zunächst wirklich sichtbar wird, und aufstampfend fordern sie eine Daseinsberechtigung ein, die das Publikum gut eine Stunde lang bei Laune halten soll.
Mit dem Titel „Wunderkammer“ verweist der bereits zum zweiten Mal zum Choreografen des Jahres gekürte Morau vieldeutig auf die Vorgeschichte heutiger Museen, in der Fürsten und vermögende Geschäftsleute im Europa der Spätrenaissance aus Wissbegierde, Machtgehabe oder bloßer Sammellust vor allem Fremdartiges in ihren Kuriositätskabinetten zur Schau stellten.
Wunderkammer ohne Gegenstände
Wirklich zu sehen ist davon nichts: keine unbekannten Tiere, seltene Naturalien, kunstvolle Schnitzereien oder chirurgische Bestecke. Vielmehr lässt Morau die acht Szenen seines Stücks wie die Objekte einer historischen Wunderkammer für sich stehen, rätselhaft und raffiniert zugleich. Und doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als kreisten sie (und das in diesem Fall auch ganz wörtlich zu nehmen) um ein Thema, das man im weitesten Sinne als Queerness beschreiben könnte. Silvia Delagneau hat für alle Beteiligten mehr oder weniger geschlechterübergreifend die gleiche Kostümierung entworfen: ein Trikot, das beschriftet oder tätowiert was von einer nackten Haut hat, dazu dunkle Lederriemen über der Brust, schwarze Strümpfe, helles Schuhwerk. Vereinzelt auch Perlenschnüre, die einen Rock imaginieren.

Das Ensemble im Kostüm aus bemaltem Langarmshirt und Leder-Harness. Foto: Yan Revazov
Im Grunde erweist sich die „Wunderkammer“ wie so oft bei ihm als eine Ensemblearbeit. Morau ist kein Choreograf im üblichen Sinn, kein Schrittmacher. Er hat Fotografie, Film, Tanz und Theater studiert, und das merkt man seinen Inszenierungen an. Es sind meist gestückelte Gruppenformationen, die er entwirft, Körper- und großflächige Bildkompositionen, die bewegt einen Sog entwickeln, dem man sich kaum entziehen kann. Solo-Auftritte finden sich dagegen selten, und auch hier sind diese meist von kurzer Dauer: Haltepunkte, um sich zwischendurch des Gezeigten zu vergewissern.
Geballte Emotionen
Begreifen lässt sich das Ganze dennoch nicht. Morau will in seiner „lebendigen Wunderkammer“, wie er sagt, keine Objekte sammeln, sondern „Atmosphären, Bewegungen und Emotionen“. Und das gelingt ihm auf beeindruckende Weise. Rauch steigt auf unerklärliche Weise aus der Ziehharmonika auf. Der schlagartige Soundtrack von Clara Aguilar und Ben Meerwein gibt dem Ganzen bisweilen etwas beängstigend Aggressives. Auch weil es das Ensemble zwischendurch dabei immer wieder an die Rampe drängt (und am Ende sogar darüber hinaus), um das Gegenüber in der Art eines Grand Guignols mit heftigen, ja grimassierenden Gefühlsausbrüchen zu konfrontieren. Es ist nicht unbedingt ratsam, bei dieser Aufführung in der ersten Reihe zu sitzen.
Aber die Ballettstange ist nicht weit. In einer Szene dient sie auf der Bühne kurzzeitig als „Heiligtum“ beziehungsweise als „Zufluchtsort“: vielfach verzerrt durch einen Spiegel, der der Szene etwas Groteskes gibt und das Ensemble zumindest kurzzeitig wie in einem Wimmelbild vereint. Denn längst hat Max Glaenzel als Bühnenbildner dahinter den nächsten Auftritt vorbereitet: ein Artefakt, das als Lichtinstallation für manche der Gipfel ist (Licht: Cube.bz).

Marcos Moraus „Wunderkammer“ liefert einprägsame Bilder. Foto: Yan Revazov
Dass man bei der „Wunderkammer“ immer wieder an die Bewegungschöre denkt, die sich Rudolf von Laban hundert Jahre zuvor hat einfallen lassen, kommt nicht von ungefähr. Marcos Morau hat sich augenscheinlich von der Weimarer Republik und ihrer „Aura des Verborgenen“ inspirieren lassen, und das manifestiert sich nicht nur in Äußerlichkeiten wie den ondulierten Frisuren. Das Fremdsein erspürt er zuletzt auch auf kabaretthafte Weise. Dass das Staatsballett seinem Artist of Residence dabei mit sichtbarem, vor allem aber auch mit hörbarem Einsatz folgt, macht den Abend – wenig verwunderlich – am Ende zu einem Ereignis.