Szene aus "Orestie"

Macht und Ohnmacht

Aischylos/Sivan Ben Yishai/Maren Kames/Miroslava Svolikova: Orestie

Theater:Theater Münster, Premiere:30.09.2022Regie:Elsa-Sophie JachKomponist(in):Julian Stetter

Drei Figuren stehen in dieser „Orestie“ im Rampenlicht: Iphigenie, Kassandra und Elektra. Die Autor:innen Sivan BenYishai, Maren Kames und Miroslava Svolikova haben Aischylos’ Stück weitergeschrieben und offenbaren seine misogynen Seiten. „Die Orestie“ entstand in einer männlich dominierten Gesellschaft, wurde von einem Mann geschrieben. Elektra, Klytaimnestra, Kassandra, Iphigenie – alle wurden bei Aischylos von männlichen Schauspielern dargestellt. In der Inszenierung von Elsa-Sophie Jach am Theater Münster werden die Schicksale der Frauen nicht umgeschrieben, sie werden reflektiert.

„Die Orestie“ wird als Wendepunkt in der Theatergeschichte erzählt, als Initialzündung für Demokratie im Theater. Der Vater tötet die Tochter, die Mutter den Vater und schließlich der Sohn die Mutter. Die Blutrache im Haus der Atriden wird durch ein Gericht beendet, das über den Sohn Orest entscheiden soll, der die Mutter und deren Geliebten umbrachte. Die finale Entscheidung fällt Athene, die ohne eine Mutter, vom Vater Zeus auf die Welt gebracht, im Sinne der Männerherrschaft für Orest entscheidet.

Perspektivenwechsel und Schicksalsschleifen

„Vergessen auf dem kleinen Teppich, wusste ich, dass auch Geschichten dazu neigen, zu vergessen“, spricht Iphigenie zu Beginn den Text von Sivan Ben Yishai. Dort auf dem Teppich hörte sie sich von ihrem Vater alle Geschichten des Vaters „und dessen Vaters und dessen Vaters und dessen Vaters“ an. Bevor die eigentliche Handlung von Aischylos’ „Orestie“ beginnt, ist Iphigenie schon tot. In der Münsteraner „Orestie“ beschreibt sie ihren eigenen Tod, wechselt von der Ich-Erzählung zu Erinnerungen in der dritten Person: „Ich hatte keine Angst. Sie hatte keine Angst!“ so reflektiert sie über das eigenen Schicksal und benennt die Gewalt des eigenen Vaters, der sie für besseres Wetter opferte.

Den Text der Seherin Kassandra hat Miroslava Svolikova geschrieben. Sie macht ein Muster deutlich, ein sich ständig wiederholendes Schicksal von so vielen Frauen, die ungehört, verschmäht blieben und ermordet wurden. Gerade die Geschichte der Seherin ist tragisch, die ihrem Schicksal nicht entkommt und deren Vorhersagen niemand ernst nimmt. „Ich glaube, ich spuke“, heißt die Elektra-Fortschreibung von Maren Kames. Elektra ist als Gegenstück zu Kassandra eine Figur der Erinnerung, die nicht vor ihrer Vergangenheit fliehen kann. „The ghosts of electricity“ sind es, die ihre Rolle beschreiben, als Aufflackern am Rande, wo so viel ungelöste Trauer und Wut dahinter steckt. Trotzdem überstrahlt Orest auch hier ihre Rolle beim Mord an der Mutter.

„That’s what she said“

Das ganze Stück ist durchzogen humorvolle Anspielungen. „Er hat sie (Iphigenie) mit seinem SCH-wert getötet“, sagt Klytaimnestra, Frau von Agamemnon und Mutter von Elektra, Iphigenie und Orest. Sie weiß, dass die Kriegsflotte wiederkehrt, denn sie hat die „FACK-el“ brennen sehen. Mit solchen Ausdrücken macht sie ihrer Wut Luft.

Den Chor verkörpern die Schauspieler:innen, die gerade nicht den Hauptpart der Szene sprechen. Sie überzeichnen mit clownesken Reaktionen die Handlung. Das ist situativ komisch und auflockernd, lenkt aber von der thematisch tieferen Auseinandersetzung ab, sodass der Funke nicht immer überspringt. Das Bühnenbild von Marlene Lockmann stellt vor allem das Haus der Atriden dar, ist in mehreren Lagen geschichtet, sodass Äußeres oder Inneres sichtbar wird. Die Kostüme von Johanna Stenzel unterstreichen die komödiantische Wirkung der Inszenierung: Kassandra steckt in einem Jumpsuit mit Rüschenkragen und aufgenähten Augen. Hervorstechend sind Babyköpfe, die Klytaimnestra auf ihren Brüsten hat, und Iphigenie auf dem Kopf. Schüler:innen aus Münster stellen die Erinnyen, die gegen Orest stimmen, in einer gelungenen Choreographie überzeugend dar.

Aktuell gestreift wird das Thema Krieg – auch als ein Muster, das sich immer und immer wieder in den Schwanz beißt. Es gibt weder Sieger noch Besiegte. „Wer tut, muss leiden“, wiederholen die Schauspieler:innen im Chor das festgeschriebene Gesetz der Götter. Hier in einem bitteren Kontext, der zeigt, wie selten aus Fehlern gelernt wird.