Foto: Josef Mohamed, Ulrike Fischer, Murat Seven © Thomas Langer
Text:Dieter Stoll, am 18. Mai 2017
Barish Karademir inszeniert Ayad Akthars „Geächtet“ am Stadttheater Fürth.
In dieser chronisch aufgeklärten Metropolen-Gesellschaft, direkt im Herzmuskel der freien Welt, zeigt man sein wahres Gesicht lieber doch nur im Ausnahmezustand. Privat unter vier Augen beim Liebesspiel vielleicht, aber auch da bloß, bis das Handy als Signal aus der anderen Dimension klingelt. Und im Ausbruch von entfesselten Emotionen zwangsläufig, wenn Panik oder Alkohol die Selbstkontrollmechanismen im Kurzschluss außer Kraft setzen.
In Ayad Akthars ätzend komisch beginnendem und drastisch tragisch abstürzendem Schauspiel „Geächtet“, vor knapp vier Jahren in den USA mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet und 2016 per Kritiker-Votum zum fremdsprachigen „Stück des Jahres“ in Deutschland mit Aufführungen an ersten Adressen in Hamburg und Berlin erhoben, geraten ein ambitionierter Oberklasse-Anwalt mit verheimlichten Wurzeln in Pakistan (angepasster Ex-Muslim auf Distanz zur Religion, aber bloß nicht drüber reden!) und seine in schönster Naivität von den wahren Werten islamischer Kultur schwärmende angeheiratete „christliche“ Künstlerin mit dem bornierten Galeristen (jüdischer Freigeist, nur nicht witzig) und seiner Karriere-Gemahlin (ohne Befund) aneinander – obwohl sie doch die liberale Offenheit ihres Standes grade bei Schweinefleisch und Scotch demonstrieren. Ein junger Einwanderer in Nöten mit den Schraubgriffen der staatlichen Ordnungsmacht taucht auch auf, und im News-Room an der Katastrophen-Wand pöbelt Donald Trump seine Dekret-Demokratie im O-Ton. Er zumindest war bei der Uraufführung in Chicago noch nicht dabei, ist im Mai 2017 aber unabweisbarer Rand-Hauptdarsteller.
Der an Rainer Werner Fassbinder und Falk Richter geschulte Regisseur Barish Karademir, der den vielleicht doch etwas zu euphorisch als ultimative Antwort auf gesellschaftliche Tendenzen festgenagelten Text im Fürther Theater inszenierte, weist dem Zuschauer fürsorglich den Interpretations-Weg. Er lässt alle Akteure, sobald sie sich in den Clinch mit der Öffentlichkeit begeben, eine Halbmaske wie im Antiken-Drama (hier eher wie ein zivilisatorischer Schleier-Ersatz gegen die indiskrete Einsicht) überstülpen, damit kein Zweifel aufkommt über Allgemeingültigkeit bei gleichzeitiger Charakter-Demontage. Das ist deutlich, wenn auch nicht ganz reibungslos mit den Intentionen des Erfinders vereinbar, der sich selbst als „kulturellen Muslim“ mit West-Bindung einstuft und mit seiner verdichteten personalisierten Versuchsanordnung nach individueller Erfahrung unter gleichzeitiger Anwendung von erprobtem Dramen-Konfliktmodell vermutlich vorrangig zeigen will, dass es mit Anpassung und Assimilierung eben nicht so einfach ist, wie das unter Party- oder Polit-Strategen nicht erst, aber besonders seit 9/11 gehandelt wird.
Die Aufführung beginnt angenehm irritierend. Der erste Blick auf Andreas Brauns Bühne zeigt einen schäbigen Bunker-Beton mit rostigem Eisenträger-Fragment in Notbeleuchtung. Diese Trostlosigkeit wird im zweiten Schritt überflutet von bunten Bildern aus dem traumhaften New York der Touristenformate, ehe sich die aufgebockte Szene dreht und zur anderen Seite ins modische Luxus-Loft schwenkt, wo das Ruinen-Requisit zum innenarchitektonischen Gag verwandelt ist und die Welt so tut, als ob sie grade mal wieder ein bisschen in Ordnung wäre. Ehe das erste Wort des Autors gefallen ist, hat der Regisseur schon drei Meinungen zum Umfeld der Geschichte positioniert. Er bleibt auch danach dieser Linie des aufreißenden Blicks treu, indem er beispielsweise die Konversation samt ihrer grobkantig geschliffenen Dialoge („Richten wir uns nicht zu sehr in unserem Argwohn ein“) in Theaterrealität mit gleichzeitiger Video-Übertragung zur grotesken Doppel-Wirklichkeit verzerrt. Im Gegenzug führt er in die hemmungslos kitschige Poesie der Videoclips, taucht stehende Stimmungen in klingende Schaumbäder, abwechselnd aus Opernarien oder Popsongs, und lässt trauerspielerisch Regentropfen wie Tränen am Fenster perlen. Hingucker-Regie, könnte man das nennen.
Die fünf Darsteller kommen dabei nicht zu kurz. Murat Seven, der den sympathischen Anwalt aus dem amerikanischen TV-Drehbuch-Labor mit der Distanz zur eigenen Biografie (stammt aus Pakistan, sagt aber lieber Indien) im beschleunigten Boulevardtheater-Tonfall beginnt und zur rasenden Wut-Attacke steigert, ist der in Witz und Wahn gleich trittsichere Schrittmacher. Ulrike Fischer (Ehefrau Emily mit nervenzerrend schwärmerischer Naivität), das gefühlsbehinderte Gegen-Paar (Oliver Fobe, Kira Lorenza Althaler) und der junge Abe unter latenter Abschiebe-Bedrohung (Josef Mohamed) umkreisen seine immer enger werdenden Freiräume. Den eigentlich gleitenden Stimmungswechsel von der leichtfertigen Komödie zum schwerblütigen Drama spielt das Ensemble wie mit umgelegten Schalter, der Bitterstoff der Alltags-Erfahrung überlagert das Pointen-Naschwerk so schnell, dass man sich auf diesen von Gebrauchs-Philosophie und Partygeplapper bepflanzten Konfliktfeldern der Weltreligionen unwillkürlich ein Extra-Biotop aus dem Hause Woody Allen wünscht.
Ayad Akthar strebt diese therapeutische Auflösung nicht an. Er treibt den Selbsthass des Angepassten zur letzten Konsequenz, wenn er dessen Verzweiflung im Moment eines tobsüchtigen Gewaltausbruchs gegenüber der geliebten Frau fixiert, und überlässt seinen Protagonisten dem freien Fall der Kolportage. Karademirs mit großem Beifall aufgenommene Inszenierung (die beiläufig erfahren muss, dass Trump als Theater-Grusel nicht funktionieren kann, wo Twitter-Realität die Tagesbefehle ausgibt) beschönigt nichts daran, sie zelebriert das Scheitern an Leben und Liebe mit dem Gnadenschuss des Selbstmords geradezu hingebungsvoll als melancholisches Melodram. Es geht zu Herzen; für den Kopf bleibt etwas zu wenig.