Als Rahmen für diesen Todestanz hat die Ausstatterin Anna Viebrock eine Bühne geschaffen, die in all ihren Variationen immer auch genau dies ist: Bühne. Das Portal mit seinen schimmernden Vorhängen, verschiedene Versatzstücke – das Podest, die Wippe, die Instrumentenkästen, der große Mikrophon-Galgen – kehren immer wieder. Und zu Anfang werden die Dramatis personae von einem Theaterdirektor mit schräger Baskenmütze in hektischer Gestik aufgestellt. Mit dieser Metapher verschafft sich Christoph Marthaler gleichsam die Lizenz zur verspielten Freiheit, die seine Inszenierung prägt. Das Spiel gibt sich immer auch als Spiel zu erkennen, es will nie etwas anderes sein als artifizielle Zurichtung, die nicht vorgibt, einen realistischen Handlungsablauf abzubilden, sondern als Chiffre gelesen werden will. Diese Befreiung vom Realismus tut der Handlung außerordentlich gut. Selten hat man so klar zu sehen bekommen, wie sehr gerade auch diese Oper ein surreales Theater ist.
Im Prinzip kennt man diesen Ansatz natürlich von Marthaler. Aber lange nicht mehr hat sich der Meister der Marotten so von den typischen Marthaler-Marotten befreit, hat seinen Akteuren so radikal neue Spielräume eröffnet. Nicht nur die Lulu, auch manche andere dieser Figuren wird man so bald nicht vergessen. Matthias Klinks traurig clownesker Alwa zum Beispiel, eine Art Shockheaded Peter, wie aus einer Klamottenkiste entsprungen, szenisch und vokal neben Barbara Hannigan vielleicht die stärkste Figur, ein Tenor von dunkler, dabei schlanker Virilität und agiler Präsenz. Oder die Geschwitz von Anne Sofie von Otter: eine schwarze Witwe von sinistrer Strenge mit charaktervollem, in der Höhe jugendlich strahlendem Mezzo; oder der pausbäckig-prallwadige Gymnasiast, dem Marta Swiderska ihren schön leuchtenden, zu dieser Alt-Partie bestens passenden Mezzo mit ins Bühnenleben gibt.
Und so wie Lulu sich immer mehr verausgabt, sich auszehrt; so wie auch die Bühne immer derangierter, trostloser wird; so mündet diesmal auch der musikalisch-dramatische Ablauf gleichsam in einen Reduktionsprozess mit finaler Requiem-Überrumpelung. Im dritten Akt hört man nicht, wie meistens, Friedrich Cerhas allzu satt instrumentierte Komplettierung dieser Oper, sondern eine für die Bühne eingerichtete Ausführung des Particells, die der Komponist Johannes Harneit gemeinsam mit Kent Nagano, dem GMD der Staatsoper Hamburg, erarbeitet hat. Auch die Oper selbst erleidet damit eine Ent-Substantialisierung, ihre Kunstwelt, und mit ihr auch Marthalers Inszenierung, zerfasert gleichsam – und wird dadurch nur noch artifizieller. Harneit und Nagano ließen sich von einigen Besonderheiten des Particells (bei den von backstage hereinwehenden Klängen der Leierkasten-Musik auch von Bergs Lulu-Suite) leiten, das beispielsweise einen ziemlich ausgreifenden Part für Solovioline verzeichnet, hier von Veronika Eberle auf der Bühne mit viel Ausdruck und Charisma gespielt, und einen Part für Soloklavier. In Hamburg setzt diese „Particell-Fassung“ direkt mit dem Paris-Bild ein. Und an der Stelle, wo Bergs Instrumentation abbricht, inszeniert Marthaler eine kunstvolle kleine Pause.
Wenn aber Lulu in Jack the Ripper endlich ihren Mörder gefunden hat – dann ist dieser Abend noch lange nicht zu Ende, sondern es erklingt das „Andenken eines Engels“. So lautet der Untertitel von Bergs berühmtem Violinkonzert, für dessen Komposition er die Vollendung der „Lulu“ unterbrach (und durch seinen plötzlichen Tod auch nicht mehr aufnehmen konnte), und mit dem er des Todes der an Kindelähmung erkrankten 18-jährigen Manon Gropius gedachte, der Tochter Alma Mahler-Werfels und des Architekten Walter Gropius.
Das ist ein starkes Stück, in jeder Hinsicht: ein komplettes Violinkonzert als Abschluss eines Opernabends, grandios gespielt von Veronika Eberle und dem Philharmonischen Staatsorchester! Man kann sich schon fragen, was denn der „Engel“ Manon mit Lulu gemeinsam hat, und wie Bergs musikalische Zitate – von der Kärntner Volksweise bis zum Bachchoral – zum Tod eines mondän-fremdartigen Frauenwesens passen. Außerdem geht es hier nicht ganz ohne szenische Verlegenheit ab. Marthaler hatte Lulu vier Begleiterinnen mitgegeben, geisterhafte ältliche Mädel, die das Programmheft nach Figuren aus dem Paris-Bild in Frank Wedekinds Drama „Büchse der Pandora“ benennt, das Berg als Textvorlage diente. Am Ende reiht die tote Lulu sich in diese Chorusline ein – und noch einmal sieht man die seltsamen Fingerspiele. Aber so richtig trägt das nicht. Und Marthalers letztlich un-dramaturgischer, gleichsam improvisatorisch-offener Ansatz führt schon zuvor dazu, dass wichtige Figuren unterprofiliert bleiben: der Doktor Schön vor allem, den Jochen Schmeckenbecher sehr präsent, aber wenig charismatisch singt, und leider auch der geheimnisumwitterte Schigolch, den Sergei Leiferkus als wuchtigen Kauz gibt und auch vokal sehr eindimensional gestaltet.
Dass auch Kent Naganos Dirigat dem Werk eine rätselhafte Offenheit lässt, ohne ihm eine eindeutige stilistische Behauptung aufzunötigen, ist im Kontext dieser Inszenierung ein Glücksfall. Nagano bringt die Partitur zum Changieren: Das Irisierende des Klangs, die Vielschichtigkeit der Struktur, die hier bisweilen fast parodistisch ausgespielten Allusionen, das collage-artige Zerbröckeln manches Verlaufs – alles ist da, aber ohne die einseitige Betonung einer „Hauptsache“. Diese ausbalancierte Schwebe tut der „Lulu“ ausgesprochen gut und schlägt auch eine Brücke zum auf andere Weise ebenso vielschichtigen Violinkonzert. Zu erleben war in Hamburg ein Abend von hybrider Ambivalenz, der mit großer Sinntiefe substantielle Fragen zum Werk aufwirft – und längst nicht alle beantwortet.