Foto: Sophia Theodorides (Lucia Ashton), Noah Schaul (Arturo Bucklaw) und Chor © Olaf Malzahn
Text:Detlef Brandenburg, am 10. Mai 2025
Dem Theater Lübeck gelingt eine großartige, umjubelte Premiere von Donizettis „Lucia di Lammermoor“. Das war bei dieser heiklen Belcanto-Oper nicht unbedingt zu erwarten.
Gaetano Donizettis Oper „Lucia di Lammermoor“ kennt zwar ,jeder‘, weil die Wahnsinnsarie der Titelheldin durch die großartige Maria Callas so enorm populär wurde. Aber auf der Bühne gelingt das Werk selten. Das hat gleich zwei Gründe. Der erste liegt auf der Hand: Man braucht hervorragende Sänger dafür – am besten die besten der Welt! Der zweite liegt im Libretto: Was sich der Autor Salvadore Cammarano da aus Walter Scotts historischem Schauerroman „The Bride of Lammermoor“ zusammengezimmert hat, funktioniert zwar nach den Regeln einer konventionellen Belcanto-Oper tadellos. Aber nach heutigen Anforderungen an einen guten Plot ist es geradezu hanebüchen. Dass nun dem Stadttheater Lübeck ein vorzügliche „Lucia“-Produktion gelungen ist, darf man folglich als doppelte Überraschung werten. Denn an diesem Werk sind schon weit größere Bühnen krachend gescheitert.
Eine Lucia-Interpretin braucht entweder einen makellos klaren und sicheren Koloratursopran mit großen expressiven Reserven, wie ihn Edita Gruberova hatte. Oder sie braucht einen schlanken lyrisch-dramatischen Sopran von großer Agilität mit einer sicheren Höhe bis hinauf in die dreigestrichene Oktave wie etwa Maria Callas. Die junge deutsche Sopranistin Sophia Theodorides kann man dem ersten Typus zuordnen. Ihr gertenschlanker, flexibler Sopran hat ein rundes, helles Timbre, sie führt ihn mit bombensicherer Intonation und ungetrübter Reinheit durch alle Lagen und, noch erstaunlicher fast, auch durch alle Lautstärken. Ihr Forte trägt ohne jedes expressiv verbrämte Schreien, und die Spitzentöne dieser Extrempartie sitzen auch im feinsten Pianissimo. So war ihre Wahnsinnsarie der absolute Höhepunkt dieses Wahnsinns-Opernabends. Wobei man sagen muss, dass der Dirigent Takahiro Nagasaki, der 1. Kapellmeisters des Hauses, die Sängerin geradezu auf Händen durch diese Arie trug und ihr mit seiner sehr flexiblen Agogik alle Zeit gab, ihre Koloraturen und Kadenzen sauber anzusetzen und ihre Phrasen ausschwingen zu lassen.
Heldische Herren
Das gilt für Nagasakis Dirigat insgesamt: Er durchmisst diesen Abend weniger mit vorwärtsdrängendem Furor als vielmehr mit atmender Nachgiebigkeit. Nur die Lautstärke gerät manchmal, vor allem wenn der ausgezeichnete, von Jan-Michael Krüger einstudierte Chor mal so richtig loslegt, ziemlich krachend. Dazu passt, dass die männlichen Sänger des Abends sehr heldisch-stabil zu Werke gehen – was Nagasaki geschickt mit der delikaten Zartheit von Theodorides’ Vokalstil zu vermitteln wusste:
Konstantinos Klironomos ist ein Tenor mit herbem Timbre und viriler Kraft, Jacob Scharfman ein edel timbrierter Enrico von dunkler Eleganz – es war schade, dass man das ,Wolferag-Duett‘ zu Anfang des dritten Akts (nach Donizettis Zählung der zweite des zweiten Teils) gestrichen hatte. Das hätte man mit diesen Stimmen schon gern gehört. Auch die übrigen Sänger machten ihre Sache rollendeckend. Changjun Lee als Raimondo, dessen hart timbriertem Bass allerdings die Wärme des Confidente, des Vertrauten der Heldin, abgeht; Noah Schaul als Arturo mit hellem Tenor und Delia Bacher als Alisa mit schön dunkel timbriertem Mezzosopran.
Zum überirdischen Zauber der Wahnsinnsarie trug in Lübeck zudem bei, dass sie, wie von Donizetti ursprünglich vorgesehen, statt von einer Flöte von einer Glasharmonika begleitet wurde – genauer: von einem kräftiger klingenden Verrophon, das der Klangtüftler Sascha Reckert erfunden hat und in Lübeck auch spielte. Der nicht ganz fassbare, schwebende und langsam einschwingende Ton der Gläser gab der ganzen Szene etwas Mystisch-Transzendentes. Das passte bestens zur Inszenierung von Anna Drescher (konzeptionelle Mitarbeit: Maximilian Hagemeyer), die die Titelheldin in dieser Szene tatsächlich hinaus aus der Männerwelt der Ashtons und Ravenswoods und zu sich selbst führte. Die Arie wird ihr gleichsam zur Utopie ihrer Selbstbestimmung, was ja dem Text ihrer Halluzinationen auch entspricht.
Bildstarke Tableaus
Drescher und ihr Team mit der bildstarken Ausstatterin Tatjana Ivschina finden sowohl ästhetisch als auch inhaltlich eine starke, ins Zentrum zielende Haltung zu dieser schwierigen Oper. Auf Cammaranos mäßig motiviertes Hin und Her der Auf- und Abgänge lassen sie sich kaum ein, nur Lucia und Edgardo dürfen ihre Liebe im 1. Teil ausagieren. Vor allem die höfische Gesellschaft auf Schloss Ravenswood aber erscheint hier in bildhaften, düsteren, mit symbolischer Bedeutung aufgeladenen Tableaus. Deren Hintergrund bildet eine steile schwarze Treppe. Hier ist der Chor postiert, fast den ganzen Abend über sichtbar: in ebenfalls schwarze, wehrhafte Unisex-Roben gekleidet, eine dunkle Menschenwand, eine inhumane Männer- und Kriegergesellschaft. Das macht Drescher anfangs mit einem ziemlich gewagten Bild klar. Alle stehen mit dem Rücken zu den Zuschauern und bewegen die Arme rhythmisch vor ihren Körpern. Und wenn man zu wissen glaubt, was die da treiben, drehen sie sich um und reiben ihre – Gewehre, die allerdings in der Psychoanalyse und auch hier gern als Phallussymbole fungieren.
Stark ist die Szene des erzwungenen Hochzeitskontrakts mit Arturo: Enrico zieht Lucia ihr rotes Kleid aus. Nahezu nackt wird sie von der Männerwand begafft, bis Enrico ihr eine weiße Hochzeitsrobe, dabei zudringlich an ihrem Körper herumfingernd, wie eine Zwangsjacke anlegt, mit meterlanger Schleppe, die an ihr zerrt wie die unerbittliche Familienehre. Und bildlich stark ist eben auch die Wahnsinnsarie. Da kommt Lucia im blütenweißen Kleid aus ihrem Hochzeitszimmer, in dem sie Arturo ermordet hat. Erst im Verlauf der Arie beginnt sie zu bluten, gleichsam von innen, weil sie es ist, die tödlich verletzt und vergewaltigt wurde. Nachdem sie in der Arie zu sich selbst gefunden hat, sitzt sie noch lange ganz vorn auf einem Stuhl: blutüberströmt, aber stolz und frei. Hier, in dieser blutigen Transzendenz, kann sie keiner mehr erreichen, auch Edgardo nicht, der am Ende um sie barmt, aber vom Chor gleichsam verschlungen wird. Keine Versöhnung im Jenseits, nirgends!
Am Ende Jubel und stehende Ovationen für einen sowohl musikalisch wie auch szenisch starken Opernabend in Lübeck.