Roland Petit „Carmen“: Gustavo Carvalho (Don José) und Ensemble Ballett am Rhein

Literarisches, alt und neu

Roland Petit / Aszure Barton: I am a problem

Theater:Deutsche Oper am Rhein, Premiere:28.01.2022

Blutjung war Roland Petit, als er 1949 in London seine „Carmen“ vorstellte: ein Vabanquespiel, das über das Sein oder Nicht-Sein seiner Kompanie entschied. Der französische Choreograph ging aufs Ganze: ein opulentes Dekor und viele Kostüme, gestaltet von niemand anderem als dem Bildhauer und Maler Antoni Clavé. Dazu eine eigens bestellte Musikcollage von David Galforth, die der Opernmusik von Georges Bizet auf die Sprünge half. Kurz: eine Investition in die Zukunft, die sich um jeden Preis auszahlen musste. Und die Investition in die Zukunft zahlte sich aus; nach der begeistert gefeierten Uraufführung war der 25-Jährige jedenfalls ein gemachter Mann.

Funktioniert solch ein Ballett heute noch?

All das ist lange her. Die Frage lautet heute eher: Funktioniert sein Ballett in fünf Bildern überhaupt noch in einer Zeit, in der sich nicht nur die Sehgewohnheit grundsätzlich verändert hat, sondern überhaupt der „patriarchalische“ Blick auf die Frau, die Ausformung von Erotik, noch dazu eine etwas klischeehafte Vorstellung von einer faszinierenden Fremdheit, die allerdings die Novellen-Handlung von Prosper Mérimée erst eigentlich möglich gemacht hat. Und die Antwort lautet kurz und bündig: ja. Anders als Petits „Le jeune homme et la mort“, das vor kurzem vom Stuttgarter Ballett ins Programm genommen wurde, haben die vergangenen Jahre seiner „Carmen“ nicht wirklich etwas anhaben können. Der Premierenbeifall war jedenfalls eindeutig, um nicht zu sagen: euphorisch.

Der Erfolg ist natürlich vor allen anderen den Tänzern und Tänzerinnen zu danken, die in „Carmen“ auf ungewohnt klassische, aber auch schon auf tanztheatralische Weise gefordert werden. So agiert die Gruppe nicht einfach en bloc, sondern als treibende Kraft, ja man auch meinen: manchmal als sichtbarer Ausdruck eines Unterbewusstseins, das Don José schließlich geradezu überwältigt. Er kann am Ende gar nicht mehr anders als seine Geliebte zu erstechen: ein Femizid, der hier umso intensiver wirkt, als der volle Orchesterklang für einen Moment erschreckt aussetzt und nur noch Paukenschläge zu hören, als wäre es das Pochen beider Herzen. Nicht nur hier steigern sich Futaba Ishizaki und Gustavo Carvalho so in ihren Rollen hinein, dass man meinen könnte, beider Rollen wären für sie geschaffen und nicht wie einst für Zizi Jeanmaire und Petit himself. Sie haben sich auch von dem „aphrodisischen Duft des Eau de Petit“ (wie das mal der Kritiker Horst Koegler so unnachahmlich formulierte) derart animieren lassen, dass der gemeinsame Liebesakt im Schlafzimmer Carmens zu einem geradezu ikonografischen Körperkunstwerk gerät, ohne dass die Sinnlichkeit dabei jemals auf der Strecke bleibt.

Aszure Barton und ein herausragender „Baal”

Aszure Barton, die andere Choreographin des Abend, ist zwar keine 25 mehr, aber immerhin jung genug, um Düsseldorf zum ersten Mal einen alten Traum von einem Handlungsballett erfüllen kann. Die Kanadierin aus Alberta das Drama eines Zwanzigjährigen aussucht: „Baal“ von Bertold Brecht: eine Wahl, die einen auf den ersten Moment überrascht, um dann insofern zu überzeugen, als hier auch die Gruppe in den Fokus einer Choreographie gerät, die allerdings ganz anders geartet ist als die ihres Kollegen: aggressiver, konkreter, erdhafter. Buntheit ist hier nicht angesagt. Barton setzt vor den kantigen Kachelraum von Burke Brown schon in der Kostümierung von Michelle Jank klare Farbakzente: ein leuchtendes Grün für den Schlabberlook des Protagonisten und ein einheitliches, wenn auch unterschiedlich durchgemustertes Schwarz für alle anderen. Das macht die Erkennbarkeit der einzelnen Rollen nicht eben einfach, und immer mal wieder braucht es ein Brecht-Zitat, um projiziert den Handlungsablauf abzuklären.

Bei aller Abstraktion des Geschehens kommt alles Gefühl jedenfalls gewaltig, und Aszure Barton findet für Baal wie für alle Gegenüber ein Tanzidiom, das so differenziert durchgearbeitet ist wie die Auftragsmusik von Nastasia Khrustcheva. Ist das Klavier auch körperhaft dem Solisten zugeordnet, vermeint man aus den harschen Streicherakkorden immer wieder auch Historisches à la Purcell oder Pärt herauszuhören. Drängend ist sie stets, und die Düsseldorfer Symphoniker unter der Leitung von Michael Braun geben dank ihr inspirierende Impulse für die Bühne.

Die werden dort auch sichtbar und stringend umgesetzt – in den imitatorischen Ensemble-Aktionen, die anfangs einen ironischen Touch haben (der übrigens bei Petit ebenfalls zu finden ist), sich später aber ins Abstoßende wenden, kaum dass Baal seine Blendkraft verloren hat. Als solcher setzt sich Miquel Martínez Pedro in Szene – weich in seinen Bewegungen und doch intensiv in allem Ausdruck: ein Charismatiker, der das Zeug hat, eine Star zu werden. Vorausgesetzt: er hat eine Choreographin zur Hand und zu Fuß wie Aszure Barton. Ihr möchte das restlos begeisterte Publikum, so der Eindruck, unbedingt wieder begegnen auf den Bühnen der Rheinoper.

Kurz: ein keineswegs problemloser Abend. Aber das war ja bei seinem Titel „I was a problem“ auch nicht anders zu erwarten.