"Nero" bei den Bregenzer Festspielen

Licht und Schatten

Arrigo Boito: Nero

Theater:Bregenzer Festspiele, Premiere:21.07.2021Regie:Olivier TambosiMusikalische Leitung:Dirk Kaftan

Sphärische Streicherklänge treffen auf grelle Blechfanfaren, fragile Soli auf martialische Tuttieinwürfe. Arrigo Boitos Oper „Nerone“, mit der die Bregenzer Festspiele im voll besetzten Festspielhaus (ohne Maskenpflicht) eröffnet wurden, lebt von ihren Kontrasten zwischen Individuum und Masse, zwischen Askese und Rausch, zwischen verklärtem Christentum und hemmungsloser Dämonie. 56 Jahre hat der Komponist, der die Oper „Mefistofele“ komponierte und die Libretti von „Otello“ und „Falstaff“ für Giuseppe Verdi verfasste, an „Nerone“ gearbeitet und die „Tragedia“ trotzdem nicht zu Ende bringen können. Der fünfte Akt, in dem Kaiser Nero dem Wahnsinn verfällt, blieb unvertont. Die sonstigen unvollendeten Passagen komplettierte Arturo Toscanini mit zwei Mitstreitern für die von ihm dirigierte Uraufführung 1924 an der Mailänder Scala. Ins Repertoire schaffte es die zweieinhalbstündige Oper bis heute nicht – und die Bregenzer Produktion wird daran wahrscheinlich auch nichts ändern. Dafür ist die Geschichte zu wenig stringent erzählt, dafür fehlt den Charakteren ein klares Profil, dafür ist auch die Musik zu kleinteilig, zusammengeklebt und zu sehr auf Effekt getrimmt. „Nerone“ bleibt ein Sorgenkind.

Das hat auch mit dem Bregenzer Abend zu tun, dem es nicht gelingt, einen musikdramatischen Sog zu erzielen und der auch szenisch keinen packenden Zugriff findet. Dirigent Dirk Kaftan spitzt mit den Wiener Symphonikern die Konflikte zu. Das ist besonders zu Beginn des vierten Aktes eindrucksvoll, wenn Nero im Circus Maximus seinen Sadismus auslebt und die Christen den wilden Tieren zum Fraß vorwerfen lässt. Da rumpelt es im Orchestergraben, da schneidet das Blech, da dröhnt die große Trommel. Die Crescendi werden zu Schwellern forciert. Die Konturen sind hart und scharf, die Lautstärke bewegt sich im Fortissimo nah an der Brutalitätsgrenze. Aber im Detail fehlt es dem plastischen Orchesterklang an Raffinesse und auch immer wieder an Qualität. Nicht jede Trompetenfanfare sitzt, die ersten Violinen fransen bei offen liegenden Läufen aus, die zu hoch intonierte Piccoloflöte macht aus einer Oktavschichtung eine spannungsreiche Dissonanz. Und auch der stimmgewaltige Prager Philharmonische Chor zeigt neben Licht auch Schatten, besonders bei der Intonation der Männerchöre. Aber Dirk Kaftan hält mit seinem klaren Dirigat den Laden zusammen und verschafft bei aller Zuspitzung mit einer guten Balance den stark geforderten Solisten Gehör.

Regisseur Olivier Tambosi, der in Bregenz bereits 2016 Franco Faccios Oper „Hamlet“ nach einem Libretto von Arrigo Boito inszeniert hatte, grenzt die unterschiedlichen Sphären geradezu plakativ voneinander ab. Auf der einen Seite die dämonisch-heidnische Welt des Magiers Simon Mago mit blutverschmierten Mänteln und schwarzen Engelsflügeln, auf der anderen Seite die christliche mit Dornenkrone und Ordenstracht (Kostüme: Gesine Völlm). Die Leiche von Neros Mutter, einst von ihm selbst ermordet, liegt im grünen Abendkleid als personifiziertes schlechtes Gewissen auf der Bühne. Dass aber der Regisseur auch den Chor in diese Kostüme steckt, hat dann doch mehr mit unfreiwilliger Komik zu tun als mit ins Bild gesetzten Alpträumen und erinnert eher Charleys Tante, zumal Nero sich im zweiten Akt im gleichen Kostüm von Asteria auf einem Billardtisch verführen lassen muss – eine von etlichen verschenkten Szenen. Auch die mit Leuchtflächen versehene labyrinthische Quaderlandschaft von Frank Philipp Schlössmann entfaltet kaum Suggestionskraft. Die immer wieder in Gang gesetzte Drehbühne sorgt für zusätzlichen szenischen Leerlauf.

Der mexikanische Tenor Rafael Rojas stattet Nero mit strahlender Höhe und beachtlichem vokalen Durchsetzungsvermögen aus. Darstellerisch fehlt es ihm an Präsenz, um diesen vielschichtigen Charakter näher kommen zu lassen. Lucio Gallo entfaltet als schwarzer Magier Simon Mago mit seinem markigen, über große Reserven verfügenden Bariton echte Dominanz – nur in der Tiefe verliert die Stimme ein wenig an Dämonie. Sein christlicher Gegenpart Fanuèl klingt bei Brett Polegato weicher, lyrischer und verbindlicher. Leider agiert der kanadisch-italienische Bariton im Laufe des Abends intonatorisch immer unsicherer, bis er am Ende beim Duett mit der zwischen Nonne und Priesterin verorteten Rubria die Orientierung fast komplett verliert. Alessandra Volpe, meist im Nonnengewand, gestaltet diese Partie mit satter Tiefe und schöner Linienführung. Richtig schlau wird man aus dieser Frauenfigur genauso wenig wie aus der wie Kundry sich zwischen den Welten bewegenden Asteria, der Svetlana Aksenova zumindest stimmlich Intensität und Strahlkraft verleiht. Am Ende steht Rom in Flammen, und Nero sitzt gelangweilt auf seinem Sessel, während die Leichen besichtigt werden. Dirk Kaftan entfesselt ein letztes Mal die Orchesterkräfte. Der Schlussakkord wird von Moll nach Dur gerückt. Aber ein Happy End sieht anders aus.