Foto: Schamane (Bernhard Glose), Archaölogin (Simone Thoma) und Römer (Marco Menegoni) in „Germania“ © F. Götzen
Text:Detlev Baur, am 6. Februar 2022
Zwei Brüder, Flavius (auch Germanicus genannt) und Arminius, sprechen, ja streiten miteinander. Sie sind nicht nur durch den Fluss Weser getrennt, sondern auch durch ihre Mission; denn Arminius kämpft gegen die römischen Besatzer, hatte sie bei seinem Sieg in der Varusschlacht vernichtend geschlagen. Sein Bruder Flavius dient weiter den Römern. Der römische Historiker Tacitus beschreibt diesen dramatischen Bruderzwist in seinen „Annalen“. In Simone Derais zweiter Inszenierung am Theater an der Ruhr spricht der italienische Schauspieler Marco Menegoni in dieser Szene auf deutsch, der Deutsche Bernhard Glose zitiert das lateinische Original. Das Lateinische ist knapper und klarer als das Deutsche oder wie es zuvor beim Auftritt Simone Thomas über die Sprache der Römer heißt, die im roten Kleid – römische ? – Knochenreste auf der Bühne untersucht: „Linderung spendet uns diese lapidare Form“.
Der Regisseur Simone Derai setzt mit dieser Arbeit (neben der Regie stammen von ihm auch Bühne, Kostümen und Videoregie) seine gleichsam lateinisch reduzierte und stilisierte Form eines zugleich bildstarken wie sprachmächtigen und geschichtsbewussten Theaters fort – im tiefen Deutschland. Mit stilisierten Videoeinspielungen zu Beginn und am Ende sowie mit fast durchgehendem, meist dunkel dräuendem Sound (Mauro Martinuz) und mit stilisiertem Sprechen in Mikrofone auf Ständern – all das auf einer schwarz umhüllten Bühne, an deren Boden Knochen und Schädel-Imitate liegen. Wieder verbindet er diverse Zeitebenen miteinander, agiert fast wie ein inszenierender Historiograph. Das ist ungemein klug und tiefgründig, schwebt jedoch zugleich immer in der Gefahr etwas nüchtern zu wirken.
Herzstück mit Roberto Ciulli
Charmanter Witz und Wärme kommen sozusagen im Herzstück des Abends ins Spiel: Roberto Ciulli, der hochbetagte Gründer des Theaters an der Ruhr, betritt in seiner Zivilkleidung die Bühne nach der Szene um aktuelles Blutvergießen, römische Knochen und die Schwierigkeiten der Ausgrabung des Vergangenen. Auf einem Barhocker sitzend spricht er – bei erhelltem Saallicht – direkt ins Publikum. Auch da geht es um Heimat und Sprache; Ciulli berichtet – nur kurz auf italienisch – von einem „Gastarbeiter“, der bei der Auszahlung auf einer Baustelle im Frankfurt der 50er Jahre über sein Gehalt verglichen mit der ursprünglich vereinbarten Summe enttäuscht ist und auf seine schüchterne Nachfrage nur ein lautes „Brutto“ entgegnet bekommt. Der des Deutschen unkundige Mann kann es sich nur so zusammenreimen, dass er wegen seiner minderen Schönheit – schließlich bedeutet „brutto“ im Italienischen „hässlich“ – weniger Geld verdiene. Ciulli berichtet dann von seiner Überquerung der Sprachgrenze in Deutschland, wie er hier heimisch wurde und fremd blieb und mit einigen Gleichgesinnten in Mülheim in eine „andere“ Welt aufbrach. Am Ende erinnert er, der als junger Mann einen Herzinfarkt hatte, uns daran, dass das Herz in uns ziemlich autonom über unser Leben entscheidet: „Es ist unser erster Fremder, in uns.“
Wer ist hier zivlisiert?
„Germania. Römischer Komplex“ heißt die Produktion, Ausgangstext ist der ethnographische Bericht „Germania“ von Tacitus, weitere Textpartien sind von Durs Grünbein, Antonella Anedda und Frank Bidart. Anfangs spricht Marco Menegoni, mit Derai Co-Leiter des Kollektivs ANAGOOR und zum wiederholten Male in Mülheim durch seine „ausgesprochene“ Liebe zum Wort beeindruckend, auf italienisch mit den Worten des Tacitus über die Germanen – „Germania“ bedeutet im Italienischen ja auch heute noch „Deutschland“ . Tacitus unterstellt, dass die zivilisatorisch wenig fortgeschrittenen Völker nordöstlich des römischen Imperiums „Ordnung“ von den Römern gebrauchen können. Ein schamanenhafter, den Oberkörper blau-grün gefärbter Germane, Bernhard Glose, übernimmt dann das Wort und befragt aus der Perspektive des vermeintlich minder Entwickelten den hochmütigen Blick des römischen Autors.
Archäologisches Theater
Im Spiel der Zeiten werden in dem monologisch dominierten Abend die Urteile über Völker im Blick zurück neu gemischt. Auch wir Menschen aus dem kalten, dunklen Land sollten weniger hochmütig über andere, vermeintlich Schwächere urteilen, so der Subtext. Das bleibt in diesem archäologischen Theater zuweilen abstrakt, zusammen mit dem in hohem Maße authentischesn Einschub des gebürtigen Italiener Roberto Ciulli entsteht insgesamt ein sehr anregendes Theater.