Maxim Gorkis "Kinder der Sonne / Nachtasyl" am Staatstheater Nürnberg

Letzter Ausweg Babuschka

Maxim Gorki: Kinder der Sonne / Nachtasyl

Theater:Staatstheater Nürnberg, Premiere:21.02.2015Regie:Sascha Hawemann

Der Blick nach Russland, derzeit auch bei literarisch durchtrainierten Theaterfreunden etwas von den politischen Leitartiklern abgelenkt, wird vermutlich nie wieder versonnen auf Birkenwäldchen ruhen können. Das Nürnberger Doppelprojekt um zwei abendfüllende Stücke von Maxim Gorki in einer vereinigten Drei-Stunden-Version ist ohnehin nicht dem beschleunigten Abarbeiten des Repertoires geschuldet (obwohl der Verdacht durch John von Düffels Antiken-Sampler „Ödipus Stadt“ und die im Vorjahr versuchte Vermischung von Sternheim-Komödien im Spielplan durchaus nahe liegt), sondern das Experiment mit zwei Perspektiven. Regisseur Sascha Hawemann und Dramaturgin Katja Prussas montierten ungleichgewichtig: Die bis heute aus dem Nachlass des Autors meistgespielte Elends-Elegie „Nachtasyl“ von 1902, angedockt an die drei Jahre später entstandene und eher als Rarität gehandelte „Intelligenzja“-Attacke mit der schon aus dem Titel „Kinder der Sonne“ blitzenden melancholischen Ironie. Dass aus dem auf Gleichberechtigung deutenden Schrägstrich-Unternehmen „Kinder der Sonne/Nachtasyl“ auf dem aktuellen Besetzungszettel ein „Kinder der Sonne (Nachtasyl)“ geworden war, muss mit einer unvorhersehbaren Akzentverschiebung während der Proben zu tun haben. Und ist doch nicht ganz richtig, denn so wenig Worte die Chaos-Clowns aus der Unterschicht bei ihren Gastauftritten vergleichsweise einbringen dürfen, ihre anarchistische Querschläger-Präsenz inmitten der parfümierten Weltschmerz-Versammlung der Gewohnheits-Depressiven prägt die Aufführung entscheidend.

Zunächst sieht man die Gesellschaft um den abgehobenen Botanik-Professor (Stefan Willi Wang haspelt den zerstreuten Wissenschaftler wie eine Comic-Figur und spritzt Bewässerung ins Publikum) wie durchs Schaufenster. Auf der Vorderbühne auf portionierter Muttererde ein improvisiertes Treibhaus aus umgedrehten Plastikeimern über Hege-Pflänzchen, dahinter der geschützte Salon, in dem die Rückwand aus Packpapier erkennbar wird. Wenn das Portal hochfährt, erscheint unter dem zerfetzen Tableau wie zum Beleg geistiger Größe oder auch Schrecken jeder Stadtbibliothekarin ein schlampig bestücktes Buchregal auf voller Bühnenbreite. Links der Samowar, rechts der Flügel – es könnten ironische Requisiten-Signale von Bühnenbildner Wolf Gutjahr sein, aber dann werden sie doch richtig gebraucht. Nach Tee rufen die verhaltensgestörten Damen und Herren rituell, selbst wenn sie eigentlich Wodka meinen, und die musikalische Begabung von Schauspielern hilft der Kennzeichnung der Stimmungslage immer mehr als die Soundtrack-Soße für alle Fälle.

Vorgeführt wird eine bis in die Grundmauern defekte Gesellschaft von scheiternden Egomanen, wo jeder den Falschen liebt, die wahren Gefühle ins Leere schwingen („Der Mensch ist ekelerregend und nutzlos“, sagt der verzweifelt liebende Tierarzt; „Du solltest heiraten“, antwortet abweisend die Angebetete) und der gern strapazierte Pauschal-Idealismus („Alle Menschen müssen Freunde sein und Aus“) auf hohlen Worthülsen federt. Christian Taubenheim spielt den verbissenen „Katzendoktor“, der beim bloßen Gerücht von Liebesglück vom Fahrrad fällt, und Julia Bartolome ist seine psychisch kranke Herzdame, die auch mal jenseits von Gorki durch Nonsens-Sehnsüchte stolpert („Gemeinsam einsam“ und „Alle mehr ans Meer“). Zwei Figuren von wahrhaft trauriger Verzweiflung. Dieses Gewicht haben die Anderen selten, denn die Regie bleibt mit dem suchenden Blick zur Seele meistens an den Fratzen hängen. Man sieht Julian Keck, wie er die Selbstüberschätzung des Künstlers zur Jonathan-Meese-Grimasse stempelt (und dann auch noch Yasmina Rezas „Kunst“-Spott zitieren muss), verfolgt Karen Dahmen als liebeskranke Hysterikerin mit erotischem Hundehecheln zum Mode-Design und Louisa von Spies versonnen klimpernd am Piano. Stefan Lorch brüllt erst unverstärkt den schlägernden Alkoholiker und dann mit Megaphon den mordenden Revoluzzer. Man könnte ihnen, sobald sie innehalten, manches Verzweiflungswort glauben, wenn sie nicht längst inszenatorisch abgeurteilt wären. 

Zwischendurch der Ruf: „Theater? – Ja!“ Dann stürmen auf Kommando die Clowns herein, wirbeln ihre Elends-Erfahrung wie Zirkusnummern, mit denen sie jederzeit auf die andere Seite der Barrikade turnen können. Philipp Weigand und Thomas L. Dietz spielen diese bösen Spaßmacher gnadenlos spaßfrei bis in die gefakte Poesie hinein und verweigern denen, die da beim Schwadronieren von der Sonne doch bloß verzückt auf die Kunstlichtspende einer geballten Kugel aus dreißig Scheinwerfern schauen, das Schutzquartier im Nachtasyl. Ein tolles Duo, in jeder Hinsicht. Am Ende ist Revolution, die Bücherwände kippen, ein Todeskommando schwärmt aus, eine Video-Sitzung als indirektes Live-Erlebnis hinter der Wand frei nach Frank Castorfs Ästhetik gibt es  auch. Da öffnet Regisseur Sascha Hawemann, der vorher in Gedankensprüngen und Vorurteilen den Überblick allzu oft verlor, einen letzten Ausweg. Von der Seitenbühne rollte der zu diesem Zeitpunkt laut Text und Spiel schon verstorbene Doktor eine riesige aufblasbare Babuschka herein als wäre es die Kuschelversion des Golem, und alle finden Unterschlupf bei dieser russischen Über-Frau, modern mit dem schützenden Reißverschluss am Mantel. 

Ein anregender, anstrengender, manchmal auch angestrengter Theaterabend, aber einer von der Sorte, die den Zuschauer am Tag danach mehr beschäftigt als während des Schlussbeifalls. Der Premierenapplaus war, nachdem in der Pause einige Zuschauer aufgegeben hatten, üppig und einmütig.