Foto: Benjamin Lewis als Stationsvorsteher Thomas Hudetz © Landestheater Detmold/A.T. Schaefer
Text:Andreas Falentin, am 7. Februar 2020
Horvaths letztes Stück mit seiner hoffnungslosen Sinn- und Moralsuche scheint auf den ersten Blick eine arg spröde Vorlage für eine Oper, mit seiner Hoffnungslosigkeit und Leere, seiner Sinn- und Moralsuche. Giselher Klebe, der in Detmold lange Professor war, und zu dessen 10. Todestag der 1980 uraufgeführte „jüngste Tag“ jetzt am Landestheater gespielt wird, hat vermutlich die einzige Oper geschrieben, die einen Stationsvorsteher zum Protagonisten hat. Er ist – der Beginn kommt uns seltsam bekannt vor! – als Opfer einer Rationalisierungsmaßnahme („Abgebaut, überall wird abgebaut“) der einzige verbliebene Angestellte im Bahnhof der Kleinstadt. Er kann ihn also faktisch nicht mehr verlassen. Und die Verbindung zu seiner deutlich älteren Frau ist schlicht abgerissen. Er ignoriert sie in der Beziehung und spricht nie schlecht von ihr, sie wird zerfressen von Hass und Eifersucht. Nein, das Leben dieses Thomas Hudetz möchte man nicht geschenkt haben. Und dann ist die Wirtstochter Anna plötzlich da, die ihren Verlobten zum natürlich verspäteten Zug gebracht hat, sie lächelt ihn an, es kommt zu einem flüchtigen Kuss. Und darüber verpasst Hudetz ein Signal. Was schief gehen kann, geht schief, ein Zugzusammenstoß führt zu 18 Toten und es beginnt ein langer Weg, auf dem die Dorfgemeinschaft als wetterwendisch und oberflächlich gezeichnet wird und Hudetz verzweifelt nach Möglichkeiten sucht, um Schuld und Verantwortung von sich abzuwälzen, von Selbstbetrug bis Mord. Am Ende ist Anna tot und Hudetz stellt sich den Behörden unter der Bedingung, seine Schuld nicht selber einschätzen zu müssen.
Das alles wirkt auf der Schauspielbühne extrem elaboriert, rationell und geschliffen, ertrinkt aber in der Leere, von der eigentlich alle Figuren infiziert sind in ihrer Unfähigkeit, sich wirklich auszudrücken und Sprache nicht nur als verdinglichtes Instrument der Nicht-Kommunikation einzusetzen. Der erfahrene Literaturoper-Komponist Klebe – sein größter Erfolg war „Jacobowsky und der Oberst“ nach Franz Werfel – hat hier klug die musikdramatischen Möglichkeiten erkannt.Seine Frau Lore hat Horvaths Stück klug gekürzt. So kann Klebe auf musikalischem Weg den Sumpf, in dem hier die Menschen ertrinken oder schon versunken sind, hör- und sichtbar machen. Er tut das mit erstaunlicher Klangphantasie. Da gib es runde, gleißende, ätherische, verdreckte und angefressene Tongebilde oder Klangskulpturen. Die Instrumentation ist selten dick, aber immens vielfältig, von den vielen Solo-Einsätzen von Oboe und Klarinette bis zur Strukturierung des Tutti-Klangs durch das Klavier, von den immer wieder anders gemeinsam schrummelnden Kontrabässen und Fagotten bis zum geheimnisvollen Vibraphon am Beginn des Schlussaktes, die Partitur schillert schlicht in allen Farben des Musikhorizonts und bleibt doch immer Partner und Stütze des dramatischen Geschehens. GMD Lutz Rademacher und das Symphonische Orchester führen das hinreißend vor, dramatisch und transparent in jedem Moment. Sogar die Vorbilder werden hörbar: die Dekadenz von Strauss‘ „Salome“, die engagierte Ausgelassenheit von Kurt Weill, die beschwingt-melancholische Wut von Hanns Eisler, die schwebenden Akkordwelten von Olivier Messiaen. Ganz am Anfang glaubt man sich sogar fast in einer kleinbürgerlich kontaminierten „Parsifal“-Anspielung wiederzufinden
Der junge Regisseur Jan Eßinger geht mit dieser gewaltigen Vorgabe außergewöhnlich metiersicher um. Keinen Realismus bietet er an, nicht ein Requisit, nur klare Haltungen, Körper, die wollen aber nicht können und wirken, als wären sie ihre eigenen Kerkermeister. Das Gefängnis ist die gewaltige Installation von Sonja Fürsti. Sie hat Leitern und Treppen, Wände, Türen und Metallgeländer aufeinandergetürmt zu einer Skulptur, die immer wieder von den Sängern im Schweiße ihres Angesichts um die eigene Achse gedreht wird. Das steht nicht nur für Gefangenheit, auch für Hierarchie und Chaos, die bestimmenden Faktoren des hier gezeigten gesellschaftlichen Mikrokosmos.Virtuos bewegt Eßinger Bühne und Spieler auch durch die raffinierten, nie selbstzweckhaftebn oder selbstverliebten Zwischenspiele, von denen jedes eine eigene Klangwelt mitbringt und in das musikdramatische Konstrukt integriert.
Das man diese 150 Minuten so reicher Musik gerne mit geht, liegt an der nicht nachlassenden Konzentration sowohl der Inszenierung als auch der Solisten und des Chores, die auch über die wenigen Längen trägt. Benjamin Lewis gestaltet den Lewis intensiv und sicher mit hellem, aber sehr männlichem Bariton. Sein Spiel rührt an im Wechselspiel von Wut, Verzweiflung und Abstumpfung. Sheida Damaghani (Anna) und Emily Dorn als Ehefrau ohne Vornamen gestalten auf selbem Niveau, musikalisch sicher, darstellerisch zurückgenommen, aber mit brennender Intensität. 16 Solisten verlangt die Partitur und das Landestheater Detmold kann sie alle rollendeckend besetzen. Heraus ragen neben den Protagonisten Andreas Jören als Schwager Alfons, ungeheuer widerständig in Gesang und Erscheinung sowie Stephen Chambers (Ferdinand) und Lotte Kortenhaus (Leni) mit wunderschön timbrierten Stimmen, klarer Artikulation, guter Präsenz und eleganter musikalischer Gestaltung.
Das Stück sollte häufiger gespielt werden. Die Musik ist nicht alt geworden und holt die Geschichte gültig in unsere Zeit. Da das aber wohl nicht passieren wird, lohnt sich eine Reise nach Detmold.