Kaum vorstellbar ist, welche Kaskaden von Angst ein Mensch in solchen Momenten durchlebt, um zu überleben. Jost hat deshalb in seiner Komposition fünf „Pforten“ quasi als individuelle Zugänge zum psychologischen Phänomen Angst musikalisch abgebildet. Der Chor ist einziger Handlungsträger (es gibt keine Solisten!) und schildert eindrücklich alle Innerlichkeit der fünf Teile: I „Fallen“ (die Reflexion des Abstürzenden), II „Hölderlin“ (die literarische Verarbeitung mittels Hölderlins wohl meistzitiertem Gassenhauer „An die Parzen“), III „Kalt“ (Angst als Kindheitstrauma), IV „Amok“ (wissenschaftliche Erklärungen von Flashbacks und Kriegstraumata) sowie V „Ab“ (der Sturz aus Sicht des gescheiterten Retters). Erneut beweist der produktive, überaus erfolgreiche Klangmaler Christian Jost seine Stärke für atmosphärische Kontraste, nicht umsonst werden seine Werke nachgespielt, ist „Angst“ immerhin die dritte Produktion.
Leider nur weiß die Inszenierung dem wenig hinzuzufügen. Man sitzt auf der Hinterbühne des Großen Hauses, blickt auf das kleine Orchester (lediglich Flöte, Klarinette, Trompete, Vibrafon, Klavier, Celli und eine Bassgitarre) und eine weiße Treppe, auf der sich (nach Teil I im Zuschauerraum) der schneeweißbekleidete Chor einfindet. Auf diese Stufen (Bühne: Bärbl Hohmann) werden Videos projiziert, die in ihrer plakativen Bebilderung der Handlung vor allem eins tun: stören. Zwar sind sie durch die Stufen gebrochen, verfremdet also, dennoch entsteht kaum ästhetischer Mehrgewinn beim Anblick von verschneiten, am Seil hängenden Bergsteigern mit Eispickel (I, der Sturz), einem wirr umherblickenden Jungengesicht (III, das Kindheitstrauma) oder dem wurmigen Abbild eines menschlichen Gehirns (IV, wissenschaftliche Ansätze zu Angst). Lediglich der auf weiße Leinwände an der Decke projizierte, in Wolken dahinfliegende Himmel unterfüttert die archaische Gewalt der Berg-Episode mit Freiheit, Göttlichkeit, Vergänglichkeit.
Bewegend gelingen jene Momente, in denen die Musik Oberhand gewinnt: beim Alt-Solo über eine Folterszene in der Badewanne (formidabel vorgetragen von der Choristin Anja Bildstein), im sechsstimmigen a cappella-Frauenchor der Hölderlin-Vertonung (II) und im musikalischen Höhepunkt des letzten Teils, ein hektisches, Panik-durchflutetes Stimmengewirr in Fortissimo. „Halte fest / woran?“ fragt Jost hier mit Simon Yates, frage ich mich, betroffen zum ersten Mal an diesem Abend. Die Angst loszulassen, ist sie nicht uns allen eigen?