"Il viaggio a Reims" beim Festival Rossini in Wildbad

Kunstvoller Lärm um Nichts

Gioachino Rossini: Il viaggio a Reims

Theater:Festival Rossini in Wildbad, Premiere:17.07.2014Regie:Jochen SchönleberMusikalische Leitung:Antonino Fogliani

Wenn Maestro Antonino Fogliani am Pult den Taktstock hebt und seinem exzellenten Orchester, den „Virtuosi Brunenses“, das Startzeichen gibt, geht beim Belcanto Opera Festival „Rossini in Wildbad“ die Post ab. Jedenfalls mit der davon galoppierenden Musik von Gioachino Rossinis dramma giocoso „Il viaggio a Reims ossia L’albergo del Giglio d’Oro“ (Die Reise nach Reims oder Hotel zur Goldenen Lilie), die in der zur Grande Opera umfunktionierten Trinkhalle des beschaulichen Schwarzwald-Kurstädtchens Bad Wildbad eine fulminante Premiere erlebte.

Freilich gelingt die rasante Reise nur übertragen im musikalischen Sinn. Denn die zusammengewürfelte international-europäische Adelsgesellschaft, die sich im bourbonisch mit goldener Lilie geschmückten Kurhotel in Plombières gefunden hat, um gemeinsam zu den Krönungsfeierlichkeiten des französischen Königs Karl X. am 29.Mai 1825 nach Reims aufzubrechen, erleidet allerhand Missgeschick und sitzt fest: Da verunfallt eine Postkutsche und kippt um, für die Reise notwendige Pferde sind nicht aufzutreiben. Also verlustiert man sich im Hotel und vertröstet sich auf die angekündigten Nachfeiern in Paris.

Das psychologisch völlig unglaubwürdig extreme „(Um-) Kippen“ der Gemütszustände unter den personae dramatis und ihre lärmenden Lustbarkeiten sind Markenzeichen der Rossini-Oper und vor allem der (trotz einigem Firlefanz) gelungenen Inszenierung des Festival-Intendanten Jochen Schönleber. Aus tiefer Traurigkeit wird euphorischer Freudentaumel, aus Eifersucht höchstes Liebesglück. So überführen Komponist und Regisseur Typen der Commedia dell’Arte an den Lebensfäden der Musik ins ironisch Absurde einer Gesellschafts-Satire. Ein Glanzstück nicht nur in dieser Hinsicht ist die erste Szene der modenärrischen Contessa di Folleville (Sofia Mchedlishvili), deren Kleider beim Kutschen-Malheur vernichtet wurden. Untröstlich muss sie vom Hotel-Badearzt (Raúl Baglietto) mit Riechsalz behandelt werden. Als jedoch ihre Zofe Modestina (Miriam Zubieta) den geretteten mondänen Ascot-Schlapphut beibringt, schwenkt sie um und ist wie ein Kind glücklich. Die schon als Rossini-Spezialistin ausgewiesene Jung-Sopranistin macht aus dieser eigentlich überdehnten Nummer mit anmutigem Charme, kurzweiligem Spiel und herrlich vokaler Verzier-ungskunst ein Belcanto-Fest. Da kringeln sich Koloraturketten locker und klangschön um noch eine Drehung höher, um in atemberaubende Spitzentöne einzumünden.

Überhaupt zündet die Fülle der Koloraturpartien (bei Sopranen und Bässen) wie ein Brillant-Feuerwerk. Schon in der Introduktion stellt sich die Hotel-Direktorin, Madame Cortese (Annalisa D’Agosto), mit einer Lerchen-zwitschernden Hochgeschwindigkeits-Arie („Di vaghi raggi adorno“) vor. Es gibt aber auch die poesievollen lyrischen Stellen. So in den beiden vom Silberglitzer einer Solo-Harfe umspielten Monologen der (an Madame de Staels Roman „Corinne, ou L’Italie“ erinnernden) römischen Dichterin Corinna (Guiomar Cantó). In der abschließenden Huldigung auf Karl X. zeigt die Wildbader Rossini-Interpretin, wie zärtlich flutende Versöhnungsmusik ebenfalls konstitutiv für den Belcanto-Stil ist.

Macho-Posen und aggressiv-dumme Eifersuchts-Rivalitäten stehen den männlichen Akteuren zu – dem mit kraftvollem Tenor auftrumpfenden Cavalier Belfiore (Artavazd Sargsyan), dem feurigen Don Alvaro (Matija Meic), dem mit schmeichlerisch weichem Bassbariton agierenden Lord Sidney (Baurzhan Anderzhanov). Zu den Höhepunkten zählt das Aussöhnungs-Duett („D’alma celeste, oh dio!“) der Marchesa Melibea (Olesya Chuprinova) mit Conte di Libenskof (Carlos Cardosa), die nach dramatischen Liebeshändeln wieder zueinander finden. Aber auch die Figur und die Bassbuffo-Qualitäten des Maitre de Plaisir, Barone di Trombonok (Bruno Praticò), der zu den Jubel-Hymnen der Nationen (im Schlussteil der komischen Oper) den Takt angibt. Hörenswert das sangliche Schnellgeplapper des Kunst-sammelwütigen Don Profondo (Lucas Somoza Osterc) in einer ausgefallenen „Katalog-Arie“.

Was wäre Rossini ohne das südländische Feuer grandioser Ensembles. Das raffiniert gebaute Sextett in der Opernmitte, das quantitative Rekorde erklimmende (in Wildbad 13-stimmige) „Gran pezzo con certato“ und die Stretta-Finali wachsen sich unter Foglianis inspirierender Leitung zu über-bordenden Vokalereignissen aus. Der (auch die Hotelbediensteten-Comparserie übernehmende) Chor (Camerata Bach Chor Posen) und das Orchester grundieren die Klangpracht. Die bewusst sparsam ausgestattete, nüchtern-modern gehaltene Bühne (Robert Schrag) und der bunte, teils kapriziös pariserische Schick der Kostüme (Claudia Möbius) tragen ihren Teil zum Gelingen der Aufführung bei, deren gute drei Stunden trotz drückender Schwüle und unbequem enger Bestuhlung wie im Fluge vergehen. Auch das ist ein gutes Zeichen.