Foto: © Candy Welz
Text:Roland H. Dippel, am 21. August 2025
Die Faust-Uraufführung „FAUSTX“ beim Kunstfest Weimar ist kein Einstiegsstoff und wird zur sensationsgierigen Überschreibung. Brett Bailey versetzt Goethes Original mit zu vielen Katastrophen und dennoch intensivem Deutungspotenzial.
Apokalyptisch, dystopisch und wie frisch tätowiert wirkt der vom humanistisch streitbaren Leiter Rolf C. Hemke an den Beginn des siebten und letzten von ihm gestalteten Kunstfest Weimar gesetzte Eröffnungsschlag zum Motto „Mutig leben“. Der Beginn von „Goethes ‚Faust II‘ in der zerrissenen geopolitischen Landschaft des 21. Jahrhunderts“ verzögerte sich in der weit vom Zentrum Richtung Gedenkstätte Buchenwald gelegenen Redoute um eine Viertelstunde, damit auch das Publikum von Omar Rajehs interaktiver Tanzperformance „Dance People“ auf dem Theaterplatz dabei sein konnte. Der Applaus für „FAUSTX“ war lang. Aber es gab auch deutlich wahrnehmbare Ratlosigkeit und in so manchem Publikumsgesicht konnte man neutrale Ablehnung lesen.
Vor Beginn stand das Theaterkollektiv Third World Bunfight in Reihe, gestaltete die 90 Minuten darauf immer unter Gesichtsmasken und verbeugte sich am Ende nicht. Ein Schritt weiter mit dieser postdramatischen Spielform und die physische Präsenz von Dekorationen oder spielenden Menschen auf der Bühne würde sich zur Gänze erübrigen. Das ließe sich auch in einem Animationsfilm gestalten – möglicherweise sogar fokussierter und schlagkräftiger. In dieser Skelettierung und verstörend enervierenden Goethe-Verschlankung geht es um Prozesse eines seine strukturellen und vernichtenden Fangarme zum Rest des grauen Planeten und seiner Populationen ausgreifenden Kapitalismus: „FAUSTX“ wurde – durchaus sinnfällig zur Kuration des Faust-Jahres 2025 der Klassik Stiftung Weimar zur Ankunft Goethes vor 250 Jahren – ein Panoptikum von „Mangel“, „Schuld“, „Sorge“ und „Not“. So lauten in Goethes satirisch hellsichtigen Text die Namen der kurz vor Fausts Tod erscheinenden vier alten Seherinnen. Der südafrikanische Faust-Adept Bailey verzichtete allerdings auf Goethes mythisch-allegorische Arabesken und sogar Fausts Verklärung nach dessen überwiegend verheerendem Tatensturm. Der Teufelspaktler tippte das Resümee seines kapitalistischen Stürmens und Drängens mit zu später Entdeckung der Bescheidenheit ins Laptop.
Nahe und düstere Zukunft
Für die Dramaturgie setzte man auf ChatGPT. Während die Bayreuther Festspiele zur 150-Jahre-Feier 2026 einen KI-„Ring“ mit Motiven aus dessen Aufführungsgeschichte ankündigen, geht es in „FAUSTX“ um eine mit artistischem Aktionismus gezeigte nahe und sehr düstere Zukunft. Tanya P. Johnson (Design), Kirsti Cumming (Video), Simon Kohler (Sound) und Nicolaas de Jongh (Licht) ließen auf der gar nicht so großen Spielfläche keine Wirkungsmöglichkeit und kein Klischee aus. Dass man dem Rausch des Fortschritts misstraut, zeigte man durch ständig übersteuerte Musik. Die Spielenden sind maskiert. Ohne Unterscheidung von Schauplätzen und Handlungsschritten zischten die vom deutschen Sprecher Lionel Tomm rezitierten Goethe-Fragmentierungen neben englischen und deutschen Untertiteln dahin. Der Einstieg griff bereits zu zwei wesentlichen Hybrid-Adaptionen: Neben Bildern aus der Wette des Erzengels mit Mephistopheles in Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm „Faust – eine deutsche Volkssage“ fluten verzerrte Akkorde aus dem Prolog von Arrigo Boitos „Mefistofele“-Oper.

In der Inszenierung „FAUSTX“ beim Kunstfest Weimar treten die Spielenden durchgehend maskiert auf. Foto: Candy Welz
Die nächsten 70 Minuten sind ein gedrängtes Katastrophen-Bacchanal von den Rändern der Welt. Fausts Maske zeigt einen glatten und fast netten Streber, der über Leichen geht. Gemalt sind die Fotos fiktiver Social-Media-Projektionen. In diesem Totentanz der postkolonialen Globalisierung wirkt vieles bestechend. Die von Goethe dargestellten mental-sinnlichen Verstrickungen der Geschöpfe gegen den Weltgeist wurden geglättet, wenn nicht ganz ausradiert. „FAUSTX“ geriert sich als sensationsgieriges Überschreibungskonfekt, das sich gar nicht an tieferen Schichten des Textes reiben will.
Kein Einstiegsstoff
Auch als Einstieg für Goethe-Anfänger und -Anfängerinnen erweist sich die in ihren dekorativen Mitteln freilich überwältigende Koproduktion als wenig geeignet. Vom filigranen Witz der klassischen Walpurgisnacht bleiben wenige Verse und von Goethes „Helena“-Akt so gut wie keine. Die Masken-Spiele des verneinenden und zutiefst philosophischen Zynikers Mephistopheles sind ersetzt durch ein plakatives Dienstleistungsverhältnis zu Faust. Dass es um diese Welt durch von Menschen gemachten Ressourcenraubbau, Naturzerstörung und sozialen Klimawandel schlecht bestellt ist, weiß man. Auch ohne Goethe-Überbau wären das zu viele Katastrophen auf einmal. Dem Publikum bleibt keine Zeit zum Innehalten und Nachdenken.
Aus Goethes visionärer Dystopie von der Morgendämmerung des Kapitalismus mit religiösem Happy-End machte Third World Bunfight ein mustergültiges Inferno des abgebrühten Fortschritts und der empathiefreien Rücksichtslosigkeit. Sie wird diese Produktion zum erfolgreichen Kaiserschnitt, durch den der lautstark trommelnde „FAUSTX“-Säugling sich von den Traditionssträngen speziell des Weimarer Bildungsmutterkuchens überaus kräftig absondern will. Zum Motto „Mutig leben“ passt in gleich mehreren Deutungsdimensionen und verheißt für die kommenden 18 Tage noch viel brandheißen Gedankenstoff.