aida_gp_ffw2362_komp.jpg

Krampfwerk der Gefühle

Gieseppe Verdi: Aida

Theater:Oper Halle, Premiere:20.01.2018Regie:Michael v. zur MühlenMusikalische Leitung:Josep-Caballé Domenech

Michael v. zur Mühlens „Aida“-Inszenierung an Oper Halle löst eine Buh/Bravo-Saalschlacht aus.

Wenn ein Regisseur sich auf Alexander Kluges Rede von der Oper als „Kraftwerk der Gefühle“ beruft, ist Vorsicht geboten. Kluge zielt damit nämlich auf einen wirkungsästhetischen Aspekt, den die Oper quasi per definitionem hat. Wenn man sie durch die Regie eigens zum Kraftwerk machen will, streicht man den Schimmel perlweiß an – aber der wird dadurch nicht unbedingt schöner. Genau das ist Michael v. zur Mühlen mit seiner „Aida“-Inszenierung im Bühnenbild und den Kostümen von Christoph Ernst an der Oper Halle passiert.

Wobei man zugestehen muss: der Regieansatz des Chefdramaurgen an der Oper Halle ist konzeptionell hochambitioniert. V. zur Mühlen geht aus von der Opernpraxis im 19. Jahrhundert, als die Oper eine Gattung war, anhand derer sich die Zuhörer eben tatsächlich über musikalisch evozierte Emotionen auseinandersetzten. Oper war damals großes Gefühlskino für Bürger, die im Privatleben den zarten Saiten ihrer Seele was Gutes tun wollten. Und so sieht man, wenn man jetzt in Halle das Opernauditorium betritt, zunächst Prospekte, die die Bühne mit Zeichnungen des historischen Portals des Hauses von 1886 verhüllen. Sie symbolisieren einen Zeitrücksturz. Später spielen Teile der Aufführung in Kulissen, die das Bühnenbild der Pariser „Aida“-Erstaufführung von 1880 reproduzieren. Und auch die Hauptfiguren tragen historisierende Roben des 19. Jahrhunderts. Wenn Ramfis und Radamès in ihren vornehmen Gehröcken und mit Bürstenbärten auf die Bühne schreiten, könnten sie glatt Zeitgenossen des alten Verdi sein. Sie alle gebärden sich wie bei einer konzertanten Aufführung: Adressat ihrer Gesten und Posen sind nicht ihre Mitspieler auf der Bühne, sondern das Publikum im Parkett, dem sie die Gefühle der Musik vermitteln wollen.

Damit allerdings lässt sich v. zur Mühlen durch Kluges Schlagwort dazu verführen, die Axiome von Verdis Musikdramaturgie in einer Weise zu verschieben, die gerade zu Verdis reiferen Opern schlecht passt. Bei diesem Komponisten ist es ja faszinierend, wie er, ausgehend von der italienischen Belcanto-Tradition, Musik und szenische Handlung von Werk zu Werk immer enger verzahnt – die „Aida“ ist ein Höhepunkt dieser Entwicklung, ein Musikdrama auf Augenhöhe mit Meyerbeer und Wagner. Zudem gestaltet der Regisseur den Stil der Gefühlsgesten gezielt altmodisch, was sich im Verlauf des Abends immer mehr verstärkt und sogar bis in die Musik durchgreift. Kaum je habe ich eine „Aida“ gehört, in der die „Nummern“ so regelmäßig in Forte-dröhnenden Abschlüssen mündeten, mit Beifall heischend lang gehaltenen Finaltönen der Sänger und zitternd-barmend emporgereckten Armen. Tatsächlich brach sich dann bei der Premiere der Beifall auch immer wieder Bahn, wobei einige übereifrige Klatschaktivisten im Parkett durchaus den Verdacht weckten, dass hier Claqeure an der Inszenierung mitwirkten. Auch das soll offenbar auf die Affektstürme verweisen, die die Oper zur Entstehungszeit der „Aida“ zu entfesseln vermochte – doch die Inszenierung gerät dadurch mehr und mehr zur Parodie einer altmodischen Opernpraxis, ja, die Posen der Figuren verzerren sich zur überanstrengten Karikatur. Das Kraftwerk degeneriert zum Krampfwerk.

Und das ist verwunderlich. Denn offenbar – so liest man es im Programmheft, und so legt es das szenische Setting nahe – will v. zur Mühlen die Emotionskraft der alten Oper keineswegs als altmodisch entlarven, sondern sie im Gegenteil für unsere Gegenwart revitalisieren. Die historisierende Personenführung und Szenerie ist nämlich nur der eine Pol im Sinnkontinuum der Inszenierung. Für den anderen sorgen die Videos von Iwo Kurze. Zu Beginn wird hinter dem historisierenden Halle-Prospekt zunächst ein kahle Bühne sichtbar, auf deren weißen Wänden alsbald Bilder flimmern, die einen Vorfall in Rechenberg-Bienenmühle im Erzgebirge zeigen. Dort hatte ein rechter Mob unter „Wir sind das Volk“-Gegröle einen Flüchtlingsbus blockiert, auf dem zynischerweise die Schrift „Reisegenuss“ leuchtete. Immer wieder werden so die „Aida“-Szenen mit aktuellen Bildern hinterlegt und durch Originaltöne überlagert und auch unterbrochen: Im Finale des ersten Aktes marschieren Soldaten; Carolin Emckes Rede bei der Verleihung des Friedenspreises 2016 in der Karlskirche oder Macrons Rede für Europa erscheinen im Video; Hans Eijkelbooms Fotoserie „The Street & Modern Life, Birmingham, U.K.“ passiert revue, Heiner Müller nuschelt Heiter-Gescheites über die Oper, die Stimme Michael v. zur Mühlens flüstert küchenphilosophische Textversatzstücke als Assoziationshilfe für begriffsstutzige Zuschauer… Da kann kein Zweifel sein: Der Regisseur hat ein Anliegen. Er will die Gefühle aus dem Opernkraftwerk direkt in unsere Gegenwart einspeisen, will sie jenen demagogischen politischen Parteien und Strömungen entgegensetzten, die heute mit emotionalen Ressentiments an die Instinkte des „Volkes“ appellieren. Aber warum desavouiert er sein Kraftwerk dann durch seine wohlfeilen Personenführungs-Karikaturen?

Im Bühnengeschehen greift die Inszenierung zudem die seltsame gesellschaftliche Konstellation bei der Uraufführung der „Aida“ in Kairo auf, die natürlich von heute aus als ein kulturkolonialistischer Akt europäischer Bürgerlichkeit gegenüber Ägypten gelesen werden kann. Die Sänger lassen sich unter diesem Apsekt leicht als Pariser Europa-Bürger decodieren, deren Plateauschuhe einen Überlegenheitsanspruch sichtbar machen – im Kontrast zu jenen Sandalen, die der Chor trägt. Der nämlich wird hier als ein persönlichkeitsloses Regiment von Fließband-Ägyptern auf Bühnenwagen hereingekarrt, simpel gekleidet in kaffeebraune Bodysuits und Lendenschurze und unter schwarze Einheitsperücken gesteckt. So wirken diese Klon-Ägypter gegenüber den feinen europäischen Solisten wie schlichte Comicfiguren – doch sie sind das Volk und begehren im Triumphmarsch auf gegen die europäischen Fremden, drängeln sie in die zweite Reihe, setzen sich durch. Am Ende bleibt ein Wut-Ägypter übrig, der die Pegida-Rhetorik durch Übertragung ihrer Parolen auf seine Heimat parodiert: „Ich bin ein Ägypter!!!“. So aber werden sowohl die Kolonialherren wie auch die unterdrückten Ureinwohner zu Zerrbildern. Und wieder man fragt sich, warum ein Regisseur eine Oper inszeniert, in der er wenig mehr findet als Ziele seines Spotts.

Das zieht sich bis ins Finale, wo die Choristen zum tränenrührenden Liebestod Tafeln hochhalten, auf denen man Webvideo-Stills von öffentlich weinenden jungen Menschen sieht. Wird hier Verdis Gefühlsdramaturgie ionisiert – oder soll uns pubertärer Social-Media-Exhibitionismus tatsächlich als ihr legitimes aktuelles Pendant angedient werden? Ohne Zweifel will Michael v. zur Mühlen dem Zuschauer eine Menge eintrichtern mit seiner Inszenierung – leider offenbar mehr, als er selber konzeptionell zu Ende denken konnte. Am Ende bleibt der Eindruck eines überambitioniert belehrenden Opernabends, der Verdis „Aida“ im Assoziationswirrwarr versenkt.

Dass Josep Caballé-Domenech, der scheidende Chefdirigent der Oper Halle, v. zur Mühlens Überzeichnung der Affektgesten auch musikalisch mitträgt, weist ihn als Dirigenten mit Theaterinstinkt aus. Von denen gibt es noch immer viel zu wenige. Und seine kraftvoll profilierte, sehr differenzierte und – abgesehen von einzelnen Wackelkontakten zwischen Bühne und Graben und ein paar Koordinationsstörungen im Orchesterspiel – überlegen koordinierende Leitung der Auffürhung lässt den Verdacht auf vordergründige Effekthascherei nie aufkommen: Hier ist das Pathos musikdramatisches Konzept im Schulterschluss mit der Inszenierung. Und das ist gut so. Man muss schon auch sagen, dass diese „Aida“ für ein Haus dieser Größe erstaunlich gut besetzt ist. Trotz erkennbarer Probleme im Einzelnen sind alle Sänger dramatisch hochpräsent und ausgestattet mit jener vokalen Empathie, ohne die das Kraftwerk der Gefühle Stromausfall anmelden müsste.

Primus inter pares ist der Tenor Magnus Vigilius als Radamès. Mit seinem metallisch klaren, bolzengerade stabilen Tenor ist er eher strahlender Held als sanfter Liebhaber, aber die Stimme sitzt und entfaltet in den pathetischen Momenten der Inszenierung genau das richtige Charisma. Bei Yannick-Muriel Noahs Aida dagegen fragte ich mich, ob die Überzeichnungsregie nicht in ungünstiger Weise auch auf das vokale Profil durchgeschlagen ist. Sie hat eine große, schöne, helle Stimme. Aber hier forciert sie oft so sehr, dass der Fokus im Forte permanent flackert und im Piano zittert. Demgegenüber wirkt Svitlana Slyvia als ausgesprochen facettenreiche Amneris geradezu wohltuend kontrolliert – klang bei der Premiere aber auch ein bisschen nach Ökonomie statt Empathie, möglicherweise geschuldet einer zwar nicht angesagten, aber bei der Premierenfeier erwähnten Indisposition. Vladislav Solodyagin findet für seinen Ramfis nach einer gewissen Einschwing-Phase ein Profil von schwarz-markanter Kraft, das zur Radikalität des blutrünstigen Priester-Pragmatikers perfekt passt. Oleksandr Pushniak gibt dem Amonasro einen angenehm vollen und weichen Bariton, bleibt dadurch in der harten Konfrontation am Nil mit Aida und Radamès aber vokal ein bisschen zu nett (obwohl ihn der Regisseur zur besseren Instruktion der Zuschauer über seine Absichten hier mit einer Peitsche ausstattet, mit der er sowohl seiner Tochter wie auch den Kulissen zusetzt). Der stets etwas undankbaren Partie des Königs gibt Sebastian Kroggel spröde Kontur. Und der von Rustam Samedov und Peter Schedding (Extrachor) einstudierte Chor ist ein Protagonist von bemerkenswerter Klangwucht und Profilschärfe.

Wenn es Michael v. zur Mühlen Absicht gewesen ist, im Zuschauerraum jene Gefühlskraft zu entfachen, von der Kluge spricht, muss man ihn zu einem veritablen Erfolg beglückwünschen: Die Begeisterung über die Musik war hell, die von einzelnen Bravos durchsetzten Buhsalven waren hörbar emotionsgeladen.