Szene aus Ludger Engels' Inszenierung von Salvatore Sciarrinos Musiktheater "Superflumina" mit Armin Graner, Anna Radziejewska und dem Opernchor.

Kommunikationslos

Salvatore Sciarrino: Superflumina

Theater:Theater Aachen, Premiere:09.12.2012Regie:Ludger EngelsMusikalische Leitung:Peter Halasz

Eine Frau bewegt sich durch einen Bahnhof, ohne Ziel, obdachlos, und gibt wirre, hochpoetisch aufgespannte Texte von sich. Die Versuchung liegt nahe, ihre grenzenlose Einsamkeit an einer realistisch nachgebildeten Großstadtbahnhofsatmosphäre zu spiegeln. Dem versagt sich die Zweitaufführung von „Superflumina“ am Theater Aachen. Die Inszenierung schreibt in vielerlei Hinsicht das Aachener Bibel-Projekt „An den Wassern zu Babylon“ von 2009 fort – auch Sciarrinos Titel bezieht sich auf den 137. Psalm. Ludger Engels und Ric Schachtebeck versuchen, aus den Unterströmungen, den Subtexten von Musik und Libretto eine Geschichte, zumindest eine stringente Entwicklung zu destillieren. Sie beginnen mit einer Falle für den vorinformierten Zuschauer.

Von der Bühne bis in die letzte Parkettreihe verläuft ein schnurgerader Steg, ein abstrahierter Bahnsteig mit unruhig schraffiertem Boden und Bahnhofsrequisiten. Auf einer Wartebank sitzt eine Obdachlose. Wenn das Orchester einsetzt, lernen wir: es ist gar nicht die namenlose Protagonistin. Die kommt mit einer Gruppe Passanten auf die Bühne geschwappt, gleichsam als Teil der Gruppe verkleidet. Immer wieder versucht sie Kontakt aufzunehmen. Das unterscheidet sie deutlich von der blicklosen Menge, für die der Bahnhof einzig Durchgangsstation ist. Die hundertminütige Vorstellung wird strukturiert durch ihr immer intensiveres Buhlen um Verständigung und Teilhabe. So löst sie einzelne Gesichter aus der Masse heraus, die ihr aber jene Kommunikation verweigern, zu der sie vermutlich auch gar nicht mehr fähig wäre.

Dieses Konzept wird von Anna Radziewskaja, der das Werk gewidmet ist und die auch schon die Mannheimer Uraufführung gesungen hat, grandios gefüllt. Wie selbstverständlich klimmt sie die Oktaven rauf und runter, singt die gezackten Linien, die vielen Wiederholungen, die unruhigen, aber nicht unregelmäßigen Rhythmen, bleibt stets klangschön, ist dabei ganz Sehnsucht, Verwirrung, Angst. Auf dem Höhepunkt tanzt sie ein Duett mit einem breakdancenden Statisten. Gegen Ende vertraut sie sich schließlich dem Bahnhofspersonal an, zwei munteren Clowns im Bahnoutfit. Auch diese kommen ihrer Bitte um Inobhutnahme oder Vernichtung ihrer Existenz nicht nach. Sie entsorgen ihren Besitz und lassen sie allein.

Im Kern funktioniert der interpretatorische Ansatz, auch wenn den poetisch surrealen Textpassagen kein direkter Einfluss auf die Bühnenaktion gestattet wird und die sachlichen Bewegungsmuster der individuell gekleideten Choristen Sciarrinos Musik oft zu wenig entgegen setzen. Der Rhythmus der Aufführung öffnet die Ohren für den Duktus von Sciarrinos Musik; eine kleinteilige Dramaturgie mit wenigen, sehr nuancierten dynamischen Steigerungen; eine Aneinanderreihung flüchtiger Momente, zusammengehalten durch eine Grundfarbe. Im Klang sind das die wie Nebel aufsteigenden Glissandi der Streicher, grundiert von überblasenen, dunklen Holzbläsertönen. Durch die phantastische Leistung aller Beteiligten – der Solisten, des Orchesters unter Peter Halasz, des Opernchores und des als Bewegungschor fungierenden Sinfonischen Chores Aachen – entsteht so eine glasklare Analyse sozialer Defizite, weder gnadenlos noch sentimental.