Foto: Ensembles des Balletts Vorpommern in "M-o(z)art²" © Peter van Heesen
Text:Gunnar Decker, am 5. Februar 2023
Wer Mozart war, wissen wir vor allem aus seiner Musik. Das Meiste bleibt Nachrede, auch üble. Andreas Heise ist sich dessen mit seinem Ballett „M-o(z)art²“ bewusst. Die Musik erkläre keinesfalls das Leben in all seinen Absonderlichkeiten, meint er. Aber dennoch bildet die Tragikomödie von 35 Lebensjahren die Basis seiner Kunst. Nun also sollen die Körper des Tanz-Ensemble in Vorpommern Musik und Leben Mozarts verbinden – eine Art Apotheose? Der Förderverein des Balletts Vorpommern verteilte währenddessen Flyer, in denen um neue Mitglieder geworben wird. Das Motto gilt: „Erst tanzen, dann denken.“
Hätte dies auch Choreograf Andreas Heise beherzigen sollen, als er sein Stück akribisch konzipierte und in acht Abschnitte teilte – von „Das Wunderkind“ bis „Der Maßlose“? Der biografische Ehrgeiz der Gliederung irritiert. Soll dieses Stück doch so etwas sein wie eine getanzte Biografie? Der Stücktitel jedenfalls scheint recht prätentiös, zielt offenbar auf „art“, die Kunst also, im Namen des Komponisten.
Unterschiedliche Musik des Komponisten aus allen Lebensabschnitten – insgesamt 22 Stücke (oder Ausschnitte aus diesen) – liegen dem Tanzabend zugrunde, der als Liebeserklärung an Mozart, so Heise, am Theater Vorpommern stattfindet (genauer: am Theater Stralsund, denn das Theater Greifswald ist – gleich für mehrere Jahre – ein Sanierungsfall. Unterschriftenlisten im Foyer warnen vor einem langsamen Theatertod in Greifswald).
Gedankenräume
Gleich der erste umfangreiche Teil „Das Wunderkind“ überrascht mit Eiseskälte und einer unvermuteten Distanz: Wir erblicken das Ensemble weiß gekleidet, auch die Gesichter sind weiß verhüllt. Ein Totentanz am Anbeginn? Lastete ein Alpdruck auf seiner vom Vater Leopold dominierten Kindheit, musste er sich zu jener verspielten Leichtigkeit, die ihn auch auszeichnet, erst mühsam hindurcharbeiten?
„M-o(z)art²“ zeigt uns die Musik im Quadrat. Körper im Raum, den Sascha Thomsen – mitsamt bewusst unscheinbarer Kostüme, die zumeist bloße Trikots sind – überaus sachlich gestaltete: Kaum Farbe und wenig Licht. Ein gedoppelter Bilderahmen, verschieden illuminiert, bewegt sich mitunter wie ein Fenster, das jemand öffnet und dann wieder schließt. Oder wie ein Buch, dessen Seiten langsam umgeblättert werden. Ein Fingerzeig: Es geht um Assoziationsräume, um Resonanzen von Klängen in Körpern, die zu Bewegung gelangen. Sie reagieren aufeinander und auf die Musik.
Aus dieser Doppelbewegung resultiert Ausdruck. Die Tänzer spielen dabei mit klassischen Formen und purer Expression. Sie handhaben ihre Körper wie Instrumente, deren Klang sie dann selbst nachlauschen, als wären es lauter Erinnerungen, die es hier zu wecken gilt. Dass dieser Abend aus vielen kleinen Szenen gelingt, liegt vor allem daran, dass er präzise das trifft, was Mozarts Musik ausmacht: schicksalsschwer und schwebend zugleich zu sein.
Urgewalt der Musik
Außerordentlich stark agiert das Ensemble in den Gruppenszenen, die etwas von Laokoons Todeskampf an sich haben. Verschiedenste Kräfte prallen aufeinander, Körper scheinen sich ineinander zu verknoten, bilden schließlich einen einzigen Leib, der in der Tiefe versinkt. Was ist für Mozart jene Seeschlange, die Laokoon tötet; jene Urgewalt, die sich als stärker erweist als sein eigener Wille? Vermutlich das Doppelgesicht des Göttlichen, das Mysterium, das erhebt und vernichtet zugleich. Der Vater von sechs Kindern, von denen vier im ersten Lebensjahr starben, kannte den Schmerz des Verlustes. Davon zeugt im sechsten Teil „Der Sohn“ das Miserere, KV 85, getanzt von Bárbara Flora und dem Ensemble. Körperlich ausgedrückte Verzweiflung und Klage – aber eben auch Anklage. Was für ein Gott lässt Kinder sterben?
Mozarts Musik durchzieht Transzendenz, ein geradezu gläubiges Überschreiten alles Diesseitigen. Über den offenen Raum, dem Mozart in seiner Musik entgegen strebt, hatte Konstatin Wecker einmal geschrieben: „Wenn ich Mozart höre, brauche ich nicht mehr in die Kirche gehen – dann weiß ich, dass es das Göttliche gibt.“
Diesen existenziellen Punkt, eine Art Narr Gottes zu sein, trifft Andreas Heise mit seiner choreografischen Anverwandlung an Mozarts Musik durchaus. Der Mensch bleibt ein Schatten, der mit uns wandert ohne sich preiszugeben. In seinem virtuosen Wechselspiel aus Pathos und Ironie zeigt sich der Maskenspieler, der sich nur im Geheimnis offenbart.
Der Hang Mozarts zu kunstvoll zelebrierten Frivolitäten, das freche Selbstbewusstsein eines Menschen, für den es nur einen Armenbegräbnis geben wird, bleibt die stolze Autonomieerklärung des Künstlers angesichts angemaßter Autoritäten. Der Abend endet dann auch mit dem Kanon „Leck mich im Arsch“, KV 231, getanzt von Tali Elman. Sie zeigt hier ihren präzisen Sinn für die Nuancen des Grotesken.
Leider kommt die Musik für diese Liebeserklärung an Mozart den ganzen Abend über vom Band. Gewiss wäre es eine Herausforderung für das Philharmonische Orchester Vorpommern und den Opernchor gewesen, hier spielbare Arrangements zu schaffen. Den so hervorragend agierenden Tänzerinnen und Tänzern wäre ein Zusammenspiel mit den Musikern zu gönnen gewesen, dem dennoch begeisterten Publikums ebenso.