Foto: Das Ensemble im Pollesch-Start an der Volksbühne © Christian Thiel
Text:Sophie Diesselhorst, am 17. September 2021
Vor der Volksbühne Berlin steht seit ein paar Wochen ein Zirkuszelt. Es
war das erste Lebenszeichen der sehnsüchtig erwarteten Intendanz von
René Pollesch an dem Theater, das in den letzten Jahren durch mehrere
schwere Krisen gegangen ist. Wie sich nun bei der Eröffnungsinszenierung
des Neu-Intendanten „Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben
dazwischen“ zeigt, ist das Zirkuszelt nicht nur eine hübsche
Einladungsgeste an das vorbeifahrende Volk, sondern: Der Zirkus ist
Motto in der neuen Volksbühne.
Die vier Schauspieler:innen Kathrin Angerer, Susanne Bredehöft,
Margarita Breitkreiz und Martin Wuttke erweisen sich als Akrobaten im
Trapez, wo eine falsche Denkbewegung existenzgefährdend sein kann für
die flüchtige Erkenntnis, auf die man hier gemeinsam zu kommen versucht.
Martin Wuttke trägt ein Skelett auf dem Rücken, dessen Gliedmaßen mit
seinen Armen und Beinen verbunden sind und dementsprechend mit seinen
Gesten mitzucken, als würde sein eigenes Gerippe sich lustig machen über
seine lächerlichen Versuche, Momente des Gedankenstotterns, der
Sprachlosigkeit körpersprachlich zu überspielen.
Natürlich ist dieser ganze Zirkus auch ein Mittel, mit den überhohen
Erwartungen an diesen Abend umzugehen. Ein weiteres Mittel ist die
extreme Unterspanntheit, in die er phasenweise abgleitet, wenn die
menschlichen Akrobat:innen nicht mehr weiterwissen in ihrem Kreisen um
die neuen Formen, die alte Jugend („mit ihren graugefärbten Haaren und
ihren Augenringen“) und den Originalitätsdruck, unter dem Wuttke gleich
zu Anfang einen schnorrenden, biertrinkenden Roboter erfindet als
Ebenbild des Menschen, oder eher – als Sehnsuchtsbild des Künstlers, von
dem immer neue Zauberstücke erwartet werden?
Erlösung – auch fürs Publikum – bringt der lachsfarbene Vorhang, nicht
nur wiederkehrendes Thema – „Stoff“ – sondern auch eigentlicher
Hauptdarsteller des Abends. Wie das Skelett auf Martin Wuttkes Rücken
ist er an etlichen Fäden aufgehängt, ein:e unsichtbare:r
Puppenspieler:in (der Regisseur? Dessen Allmacht hier sonst ständig
bestritten wird!) lässt ihn tanzen, sich zusammen- und
auseinanderziehen, als wäre „das Ding lebendig“, wie Susanne Bredehöft
(bekannt aus mehreren Schlingensief-Filmen) irgendwann ausruft. Der
Vorhang setzt mit seinen Ausdruckstänzen die ganze Theatermaschine in
Bewegung, Scheinwerfer leuchten auf, Fagott und Klarinette quaken und
quietschen avantgardistisch, und Kathrin Angerer ergänzt die Nouveau
Cirque-Atmosphäre mit ein bisschen rhythmischer Sportgymnastik und
schwenkt bunte Bänder. Es fühlt sich an wie ein Stoßlüften.
Denn sehr viel „alte Volksbühne“ hängt sonst noch in diesem Abend, und
das soll auch so, wird klar, schon wenn man die Programmzettel sieht,
die anmuten „wie früher“. Auch im Logo ist das Räuberrad der Castorf-Ära
wiederauferstanden, nur jetzt zusammengesetzt aus bunten Legosteinen.
Und war man zu Anfang der Vorstellung noch froh, den lauten
Querdenker:innen entronnen zu sein, die die Eröffnungs-Öffentlichkeit
vor dem Theater als Bühne für eine wirre „Protestaktion“ nutzten, so
präsentieren Pollesch und sein Ensemble sich im Laufe der 90 Minuten
doch sehr betont als Klassiker:innen, in einem Theater, wo man weiß, was
man kriegt. Und es wird – trotz zuverlässiger kleiner szenischer
Höhenflüge – schon bald ein bisschen langweilig. Aber das war ja erst
der Anfang.