Szene aus "Fidelio"

Kein Zurück in die Freiheit

Ludwig van Beethoven: Fidelio

Theater:Hessisches Staatstheater Wiesbaden, Premiere:16.10.2022Regie:Evelyn HerlitziusMusikalische Leitung:Will Humburg

In des Lebens Frühlingstagen waren Leonore und Florestan ein glückliches Paar, liefen über grüne Wiesen, tranken Wein mit dem Minister und dem Gouverneur und feierten so den Start der vielversprechenden politischen Karriere Florestans. Doch ganz ungetrübt waren diese Zeiten nicht, weil Pizarro ebenfalls Interesse an Leonore zeigt. Eine scheinbar zufällige Berührung an der Schulter, aber auch eindeutige Gesten sind untrügliche Zeichen im anfänglich eingespielten Video. In dieser Art wird die Geschichte auch in Johann Simon Mayrs „L’amor coniugale“ erzählt. Dort ist das Geschehen auf eine privat-sentimentale Liebesintrige reduziert. Auch Beethovens erster Librettist Joseph Sonnleithner hat gegenüber der Wiener Polizeihofstelle noch versucht, die Rolle des Gouverneurs kleinzureden, dieser übe ja „nur eine Privatrache aus“, doch geht Beethoven in seinem „Fidelio“ in der Konfrontation von Leonore und Pizarro weit über das Private hinaus.

Es ist genau diese Oper, die sich Evelyn Herlitzius, die große hochdramatische Sopranistin, für ihre erste Regierarbeit überhaupt ausgesucht hat. Am Staatstheater Wiesbaden inszeniert sie Beethovens dritte Fassung des Stückes, indem sie dessen Probleme nicht löst, sondern umgeht, aber trotzdem ans Ziel kommt. Sie widmet sich der kleinbürgerlichen Sphäre ebenso wie der bürgerlich-heroischen, ohne die Spiegelung des Häuslichen im Kosmischen herauszuarbeiten. Sie behält den originalen Text bei, reduziert ihn aber auf seinen Informationsgehalt. Sie verlegt die Handlung in ein modernes Gefängnis, in dem der Gefangene Florestan ganz antiquiert in rasselnden Ketten liegt.

Und doch erzählt sie eng am Stück entlang eine spannende, nachvollziehbare Geschichte, die die Idealisierung und heroische Überhöhung von Leonore und Florestan kritisch sieht. Frank Philipp Schlößmann hat ihr ein Gefängnis mit lauter einsehbaren Einzelzellen in den Bühnenhintergrund gebaut, das Jeremy Benthams Panopticon nachempfunden ist. Davor, im Innenhof des Gefängnisses, spielt sich der Alltag der Wärter ab. Dort grillt Rocco seine Würstchen, dort träumt Marzelline beim Sonnenbaden von der Hochzeit mit Fidelio.

Schäden der Gefangenschaft

Herlitzius interessiert in erster Linie das, was die Gefangenschaft mit den Menschen macht, wie diese sie verändert, sie prägt und deren Rückkehr ins vorherige Leben unmöglich macht. Sie zeigt das besonders eindrücklich im Schlussbild, wenn die Familien der Gefangenen in die Zellen gehen, diese aber aus ihren täglichen Bewältigungsritualen der Isolationshaft nicht herausfinden, darin gefangen bleiben. Sie zeigt dies aber auch an den Protagonisten: Denn während die hohe Gattin vom Volk zur erlösenden Christusfigur idealisiert wird, sich kaum dagegen wehren kann, bleibt Florestan als gebrochener Charakter zurück, unfähig an das vergangene Liebesglück anzuknüpfen. Der Liebeskummer Marzellines wirkt im Angesicht des Leids der Gefangenen bedeutungslos. Sie scheint das zu erkennen und entzieht sich durch Flucht von der Bühne in den Zuschauerraum, aus dem Pizarro und seine Schergen anfangs aufgetreten waren, dem Geschehen.

Das ist immerhin eine Reaktion auf das Geschehene. Wie ihr Vater oder dessen Gehilfe, die sich als Rädchen im Getriebe der Mächtigen sehen, darauf reagieren, bleibt offen. Herlitzius interessiert sich wenig für die Mitläufer, noch weniger für die Anstifter. Dem glatzköpfigen Pizarro eine private Motivation für seinen Hass auf Florestan unterzuschieben, heißt ihn verkleinern, sind doch die meisten seiner Gefangenen Opfer willkürlich-politischer Gewalt.

Der von Albert Horne einstudierte Chor singt erfreulich homogen und differenziert und auch die kleineren solistischen Partien gelingen überzeugend. Barbara Havemans Leonore kämpft mit den Tücken der Partie. Sie hat gute Höhen, singt schöne Linien, doch in der Mittellage rutscht die Stimme in den Hals, wird dumpf und kehlig. Marco Jentzsch ist ein schlanker Florestan, der deutlich machen kann, dass die Rolle dem Tamino näher ist als dem Siegfried, Claudio Otelli ein stimmgewaltiger Pizarro, dem im zweiten Akt allerdings die Kräfte schwinden. Dimitry Ivashchenko hat anfänglich Intonationsprobleme, bekommt die zunehmend in den Griff und zeigt einen Rocco, der zwischen gehorsamer Gemütlichkeit und mutigem Aufbegehren schwankt. Anastasiya Taratorkina singt eine verspielte Marzelline, Ralf Rachbauer einen trotzigen Jaquino und Christopher Bolduc einen gutmütigen Fernando.

Überragend ist das Dirigat von Will Humburg, unter dessen Leitung das hessische Staatsorchester regelrecht aufblüht. Sein Beethoven ist glasklar und bis ins kleinste Detail durchstrukturiert. Jede Phrase ist verständlich, jedes Ensemble durchgearbeitet, Musik und Text sind aufeinander, die Artikulation ist individuell abgestimmt. Humburg treibt dem Stück die singspielhafte Behäbigkeit ebenso aus wie sentimentale Rührseligkeit, er verdichtet und spitzt zu, zeigt einen Beethoven am Puls der Zeit. Das ist namenlose Freude.