Damit ist auch der Kontext von Wielers und Morabitos Inszenierung benannt: Sie projiziert Verdis „Rigoletto“ auf das komplexe Widerspiel von Revolution und Gegenrevolution im 19. Jahrhundert, auf das auch Verdis Vorlage, Victor Hugos Drama „Le Roi s’amuse“, Bezug nimmt. Rigoletto ist hier gewissermaßen der Revolutionär in der Maske des Agent Provocateurs: einer, der auf der Seite der Mächtigen mitmacht und seine Macht vor allem dazu nutzt, sein Umfeld zu drangsalieren und zu Schandtaten zu animieren, um so das Establishment von innen heraus zu zerrütten. Zeitweise übernimmt er sogar die Rolle des Herzogs, wenn der mal wieder in den Armen einer Schönen seine Staatspflichten versäumt. Auch seine Tochter – hier gehen Wieler und Morabito allerdings deutlich über Verdi hinaus – erzieht er zur Revolutionärin. Was eigentlich zu freundlich gesagt ist, denn die Inszenierung macht unmissverständlich deutlich, dass Rigoletto seine Gilda in der düsteren Hinterhof-Gassenwohnung, die Bert Neumann sehr effektvoll mit Haus-Versatzstück und Rundhorizont auf die Drehbühne praktiziert hat, als Vehikel seiner revolutionären Phantasien missbraucht und ihr so das Frau-Sein verweigert.
Kein Wunder, dass so ein Mädchen bedingungslos auf den Mann fliegt, der ihre Weiblichkeit erweckt. Das ist für sie quasi ein umgekehrtes Coming out. Und so wird das Prinzessinnenkleid (Kostüme: Nina von Mechow), in dem sie dem Vater nach ihrer Entführung bei Hofe entgegentritt, für sie zur Chiffre ihrer Emanzipation, für den Vater dagegen zu puren Provokation. Das – ebenso wie der Krönungsmantel, in dem Rigoletto den gedemütigten Monterone (mit wuchtiger Ausdruckskraft: Roland Bracht) verspottet – ist eines der Details, an denen man deutlich erkennt, wie sehr es dieser Inszenierung um theatrale Zeichen geht und nicht um realistische Szenerie. Die Drehbühne zeigt unbekümmert die konstruktiven Rückseiten der Kulissen, die höfische Welt mit ihren Vorhängen ist ihrerseits eine einzige Inszenierung. Alles hat hier den doppelten Boden der Metapher, die auf mehr verweist, als sie gegenständlich ist.
Das ist klug und vielschichtig – in einigen Szenen allerdings (bei der Entführung Gildas oder bei der Vorführung von Monterones Tochter als geschwängertes und gemordetes Opfer) auch etwas umständlich oder plakativ. Abgesehen von der szenischen Bildlichkeit aber gehen Wieler und Morabito gar nicht so weit über den schon bei Verdi und seinem Librettisten Piave angelegten Subtext hinaus. Schon die Oper stellt vor dem Hintergrund eines repressiven Herrschaftssystems mit allem Nachdruck die Frage, ob es ein richtiges Leben im Falschen geben kann. Wieler und Morabito zeigen mit dem gleichen Nachdruck, wie das Mitläufertum Rigolettos sich selbst desavouiert und seine Familie zerrüttet. Mehr noch: dass das falsche Leben jeden zum Monster macht, auch den heimlichen Opponenten. Diese Inszenierung ist eine schlüssige Antwort auf die von Verdi gestellten Fragen.
Ana Durlovski zeichnet die Emanzipation Gildas vom Gavroche zur liebenden Frau bestechend genau nach – startet stimmlich allerdings mit beunruhigend engem Fokus und verkrampftem Vibrato in die Partie. Doch im Liebesduett des 1. Aktes und vollends im folgenden „Caro nome“ singt sie sich wunderbar frei und spielt die ganze Brillanz ihres bombensicher intonierenden, glockenklaren, lupenrein fokussierenden lyrischen Koloratursoprans aus. Auch Atalla Ayan als Herzog gibt anfangs durch eine schlecht sitzende Höhe und einige Intonationstrübungen Anlass zur Sorge; aber auch er stabilisiert seinen dunklen, vollklingenden, in der Höhe allerdings etwas instabilen Tenor zunehmend und zeichnet ein vergleichsweise konventionelles, aber zunehmend packenderes Porträt des Verführers zwischen Lust und Überdruss. Und noch eine Hauptfigur ist hervorzuheben: der auch schauspielerisch enorm profilierte Opernchor, der seinen Part mit bestechender Präzision und Differenzierung singt.
Dadurch leistet er einen entscheidenden Beitrag zum Gelingen von Sylvain Cambrelings musikalischer Interpretation. Der Stuttgarter GMD treibt Verdis musikalischem Kasten das Leiern gründlich aus und lässt agogische Nachgiebigkeit nur als Mittel der syntaktischen Gliederung zu. Orchester und Ensembles klingen strukturklar und spannungsvoll, dramatische Höhepunkte kommen (von einigen rhythmischen Wacklern abgesehen) konzis, ohne breit zu werden. Die höfische Szenerie zu Beginn allerdings, auch noch das düstere Treffen zwischen Rigoletto und Sparafucile (markant und dunkel: Liang Li), wirkt in der Charakteristik etwas flau. Doch dann hört man packende, ohne Drücker aus der Struktur entwickelte dramatische Prozesse und Ensembles.
Am Ende Begeisterung für die Sänger und freundliche Zustimmung für eine Inszenierung, die zwar weder das Werk deskonstruiert noch es mit einem Theater der Grausamkeit überformt, die aber aus den Tiefenschichten von Musik und dramatischer Handlung eine Menge an Grausamkeit und Unheil ans Bühnenlicht bringt.