Thumbnail

Kein richtiges Leben im falschen

Giuseppe Verdi: Rigoletto

Theater:Oper Stuttgart, Premiere:28.06.2015Autor(in) der Vorlage:Victor HugoRegie:Jossi Wieler, Sergio MorabitoMusikalische Leitung:Sylvain Cambreling

Große Worte über ein Kunstwerk können riskant sein. Zumal, wenn sie im Programmheft zu einer Inszenierung stehen. Im Programmheft zur neuen „Rigoletto“-Inszenierung an der Oper Stuttgart lesen wir die Worte: „Die Subversion von ,Le Roi s’amuse‘ und ,Rigoletto‘ liegt… in ihrer Dekonstruktion abendländischer Theatertradition. Triftig könnte sie als Antizipation eines ,Theaters der Grausamkeit‘ im Sinne Artauds, Brechts, Becketts oder Müllers begriffen werden.“ Wow. Wenn man das für bare Münze nähme, müsste man die Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito (vom letzteren stammt das Zitat) als gescheitert betrachten. Das wäre aber ziemlich unfair. Denn dieser „Rigoletto“ hat musikalisch wie szenisch beachtliche Qualitäten. Aber eben nicht, weil er irgendetwas dekonstruierte oder Verdi durch die Brille Artauds, Brechts oder Heiner Müllers läse. Sondern weil sich das Regieteam ebenso wie die Sänger außerordentlich hellsichtig und -hörig auf die musikalischen und dramatischen Subtexte dieser wahrlich vielschichtigen Erfolgsoper einlassen.

Das beginnt schon mit der Titelpartie. Einen Rigoletto, wie Markus Marquardt ihn in Stuttgart spielt und singt, hat man lange nicht gesehen. Stilistisch treibt er Verdis keineswegs lustigem Narren die letzten Oberflächenreize des Belcanto aus, die man in der Partitur ja allenfalls noch entdecken könnte. Marquardts Ansatz ist konsequent expressiv, allerdings in einem ebenso konsequent unsentimentalen Sinn. Mit seiner dunklen, wuchtigen, ausdrucksvoll aufgerauten Stimme und seinem körperbetonten, kraftvollen Spiel zeigt er einen Menschen, der leidet und zugleich auf äußerst garstige Weise Leid zufügt, indem der die anderen verspottet und seine Tochter unterdrückt. Er taugt weder zur Projektionsfläche für das Mitleid der Zuschauer noch zum gebrochenen Antihelden. Er ist ein großspuriger Schweinehund, der an den Schweinereien anderer Schweinehunde zugrunde geht. Oder die Gilda von Ana Durlovski: Die ist anfangs ein Tomgirl mit schwarzer Joppe und durabler Hose, die Mütze weist sie als androgyne Schwester jenes Straßenjungen Gavroche aus, den Victor Hugo in „Les Misérables“ zum Leben erweckt hat, und der möglicherweise inspiriert ist durch den Jungen mit den Pistolen, der im berühmten Gemälde von Lacroix an der Seite der Freiheit über Leichen geht.

Damit ist auch der Kontext von Wielers und Morabitos Inszenierung benannt: Sie projiziert Verdis „Rigoletto“ auf das komplexe Widerspiel von Revolution und Gegenrevolution im 19. Jahrhundert, auf das auch Verdis Vorlage, Victor Hugos Drama „Le Roi s’amuse“, Bezug nimmt. Rigoletto ist hier gewissermaßen der Revolutionär in der Maske des Agent Provocateurs: einer, der auf der Seite der Mächtigen mitmacht und seine Macht vor allem dazu nutzt, sein Umfeld zu drangsalieren und zu Schandtaten zu animieren, um so das Establishment von innen heraus zu zerrütten. Zeitweise übernimmt er sogar die Rolle des Herzogs, wenn der mal wieder in den Armen einer Schönen seine Staatspflichten versäumt. Auch seine Tochter – hier gehen Wieler und Morabito allerdings deutlich über Verdi hinaus – erzieht er zur Revolutionärin. Was eigentlich zu freundlich gesagt ist, denn die Inszenierung macht unmissverständlich deutlich, dass Rigoletto seine Gilda in der düsteren Hinterhof-Gassenwohnung, die Bert Neumann sehr effektvoll mit Haus-Versatzstück und Rundhorizont auf die Drehbühne praktiziert hat, als Vehikel seiner revolutionären Phantasien missbraucht und ihr so das Frau-Sein verweigert.

Kein Wunder, dass so ein Mädchen bedingungslos auf den Mann fliegt, der ihre Weiblichkeit erweckt. Das ist für sie quasi ein umgekehrtes Coming out. Und so wird das Prinzessinnenkleid (Kostüme: Nina von Mechow), in dem sie dem Vater nach ihrer Entführung bei Hofe entgegentritt, für sie zur Chiffre ihrer Emanzipation, für den Vater dagegen zu puren Provokation. Das – ebenso wie der Krönungsmantel, in dem Rigoletto den gedemütigten Monterone (mit wuchtiger Ausdruckskraft: Roland Bracht) verspottet – ist eines der Details, an denen man deutlich erkennt, wie sehr es dieser Inszenierung um theatrale Zeichen geht und nicht um realistische Szenerie. Die Drehbühne zeigt unbekümmert die konstruktiven Rückseiten der Kulissen, die höfische Welt mit ihren Vorhängen ist ihrerseits eine einzige Inszenierung. Alles hat hier den doppelten Boden der Metapher, die auf mehr verweist, als sie gegenständlich ist.

Das ist klug und vielschichtig – in einigen Szenen allerdings (bei der Entführung Gildas oder bei der Vorführung von Monterones Tochter als geschwängertes und gemordetes Opfer) auch etwas umständlich oder plakativ. Abgesehen von der szenischen Bildlichkeit aber gehen Wieler und Morabito gar nicht so weit über den schon bei Verdi und seinem Librettisten Piave angelegten Subtext hinaus. Schon die Oper stellt vor dem Hintergrund eines repressiven Herrschaftssystems mit allem Nachdruck die Frage, ob es ein richtiges Leben im Falschen geben kann. Wieler und Morabito zeigen mit dem gleichen Nachdruck, wie das Mitläufertum Rigolettos sich selbst desavouiert und seine Familie zerrüttet. Mehr noch: dass das falsche Leben jeden zum Monster macht, auch den heimlichen Opponenten. Diese Inszenierung ist eine schlüssige Antwort auf die von Verdi gestellten Fragen.

Ana Durlovski zeichnet die Emanzipation Gildas vom Gavroche zur liebenden Frau bestechend genau nach – startet stimmlich allerdings mit beunruhigend engem Fokus und verkrampftem Vibrato in die Partie. Doch im Liebesduett des 1. Aktes und vollends im folgenden „Caro nome“ singt sie sich wunderbar frei und spielt die ganze Brillanz ihres bombensicher intonierenden, glockenklaren, lupenrein fokussierenden lyrischen Koloratursoprans aus. Auch Atalla Ayan als Herzog gibt anfangs durch eine schlecht sitzende Höhe und einige Intonationstrübungen Anlass zur Sorge; aber auch er stabilisiert seinen dunklen, vollklingenden, in der Höhe allerdings etwas instabilen Tenor zunehmend und zeichnet ein vergleichsweise konventionelles, aber zunehmend packenderes Porträt des Verführers zwischen Lust und Überdruss. Und noch eine Hauptfigur ist hervorzuheben: der auch schauspielerisch enorm profilierte Opernchor, der seinen Part mit bestechender Präzision und Differenzierung singt.

Dadurch leistet er einen entscheidenden Beitrag zum Gelingen von Sylvain Cambrelings musikalischer Interpretation. Der Stuttgarter GMD treibt Verdis musikalischem Kasten das Leiern gründlich aus und lässt agogische Nachgiebigkeit nur als Mittel der syntaktischen Gliederung zu. Orchester und Ensembles klingen strukturklar und spannungsvoll, dramatische Höhepunkte kommen (von einigen rhythmischen Wacklern abgesehen) konzis, ohne breit zu werden. Die höfische Szenerie zu Beginn allerdings, auch noch das düstere Treffen zwischen Rigoletto und Sparafucile (markant und dunkel: Liang Li), wirkt in der Charakteristik etwas flau. Doch dann hört man packende, ohne Drücker aus der Struktur entwickelte dramatische Prozesse und Ensembles.

Am Ende Begeisterung für die Sänger und freundliche Zustimmung für eine Inszenierung, die zwar weder das Werk deskonstruiert noch es mit einem Theater der Grausamkeit überformt, die aber aus den Tiefenschichten von Musik und dramatischer Handlung eine Menge an Grausamkeit und Unheil ans Bühnenlicht bringt.