Foto: Im Aderkostüm: Elizabeth Bailey, umringt von Mitgliedern des Opernchores © N. Klinger
Text:Andreas Berger, am 27. Januar 2019
Bachs Kantaten verhandeln Wesentliches: Lebensfreude und Leiden, den Tod als Übergang zu neuem Sein, den Menschen in der Welt mit seinem nur allzu berechtigten Empfinden von Ungenügen und Sünde, den Allmächtigen mit seiner wunderbaren Hinwendung zu aller Kreatur und seiner Gnade. Das ist Lebenserfahrung und Theologie in einem, musikalisch so kunstvoll gemacht und doch so schnörkellos das Herz berührend. Schon die historische Aufführungspraxis muss sich in ihren technischen Debatten hüten, den klaren lutherischen Verkündigungsgehalt aus Wort und Emotion dieses protestantischen Barocks nicht zu gefährden. Holt man Bachs Kirchenkantaten dann noch in szenischer Interpretation auf die Bühne, drohen ästhetische Überfrachtung einerseits und andererseits philosophisch-theologische Reduktion. Leider ist Aniara Amos (Inszenierung/Bühne) mit ihrem Kantatenabend „Anfang und Ende –B.A.C.H.⁶¹“ am Staatstheater Kassel gleich in beide Fallen getappt. Entstanden ist ein braves, nicht aufregendes, aber auch nicht erschütterndes oder wenigstens berührendes Kostümkonzert, wie es Bach nun gerade nicht nötig hat.
Sicher, Choreografen, die wie John Neumeier assoziationsreich die Matthäuspassion tänzerisch erzählen oder wie Uwe Scholz die musikalischen Strukturen visualisieren, um über die gestische Abstraktion am Göttlichen zu rühren, haben es leichter. Das lässt sich mit einem Opernchor schwer herstellen. Andererseits hat gerade Aniara Amos immer wieder gezeigt, dass sie in Bildern Situationen aufrufen kann, die durchaus weiterführen, zuletzt etwa bei Salvatore Sciarrinos „La Porta della Legge“ in Braunschweig, dessen musikalischen Stillstand am „Gesetzestor“ sie phantastisch rückkoppelte mit Sündenfall und Jüngstem Gericht. In Kassel hingegen bleibt das Szenario etwas unterkomplex. Ein Video lässt Wasser fallen, zur Kantate „Ach wie flüchtig“ tauchen darin Uhren auf, später Gesichter. Ganz am Ende fließt es himmelwärts, da saugt das Göttliche seine Geschöpfe quasi wieder auf.
Zunächst steht nur ein Mann auf der Bühne, ein gewichtiger Adam, doch zu Liebe und Versuchung kommt es nicht. Die anderen Figuren treten hinzu, alle in weißen Trikots und geschminkten Gesichtern, halb Kabuki, halb Commedia, leider auch mit einer Art Astronautenstiefeln und bammelndem Stoffgemächte, ohne Ansehen des Geschlechts auf einige Choristen verteilt (Kostüme: Sarah Julia Rolke). Aufgemalt ist ihnen ein System von blauen Venen und roten Arterien nebst Herz, wir schauen ihnen also unter die Haut. Aber so tiefschürfend ist die Bewegungsregie dann keineswegs. Wir sehen keine Seelen tanzen, sondern Menschen, die in der Kantate „Falsche Welt, dir trau ich nicht“ zur Arie von den falschen Zungen sich gegenseitig würgen, dann wieder im Stuhlhalbkreis zu schlafen scheinen, auch mal die Stühle in zwei Gruppen gegeneinander erheben. Ein Statist kommt unter Donnerhall und mit angstvoll abwechselnd zu beiden Seiten gewendeten Augen zu Tode und bleibt dort bis fast zum Ende liegen wie ein Opferlamm.
Über weite Strecken steht der Chor aber bloß im Raum verteilt, verkünden sich die Solisten auf einem Stuhl stehend quasi konzertant. Konzepte wie Sünde oder Gnade, die in den Texten auftauchen, erfahren keine Deutung. Und manchmal schwankt die Bewegungsfindung zwischen Eurythmie und Kindergottesdienst, wenn beim festlichen „Erschallet, ihr Lieder“ die Choristen ihre Hände horchend an die Ohren legen oder sich die Solisten sanft im Takt wiegen. Der „Tröster“ Christus ist mit gutem Willen in den fürsorglichen Gesten unter den Choristen sichtbar, die den Gefallenen bergen und tragen. Eine Schlangenbewegung der verschränkten Choristen und erhobene Hände hinter dem Solisten ergeben eine hübsche pfingstliche Gloriole. Aber wenn sich am Schluss die Sänger mit erhobenen Armen in den Hüften drehen und im Licht umarmen, sieht das zu sehr nach Erweckungsgottesdienst aus. Die Gesten sind abgenutzt, das Theater kann der Musik in dieser Inszenierung nichts geben, was sie ohne Ablenkung viel ergreifender nicht schon hätte.
Jörg Halubek führt das Staatsorchester Kassel zu einem schlanken Klang, legt, wie heute üblich, bei den Stimmen mehr Wert auf Affektbetonungen als auf sinnhafte Artikulation. Daniel Holzhauser kann die Arien mit schönem Bariton singen, aber für die „Heiligste Dreieinigkeit“ braucht das Wort mehr Präsenz, wohl auch mehr Basskraft, um ins Gewissen zu dringen. Younggi Moses Do nimmt die Tenor-Arien zu zärtlich und lässt die Fülle vermissen, wo die Stimme hoch aufstrahlen müsste. Karola Sophia Schmids Sopran wirkt nicht durchweg rund, nimmt sich zuweilen zu sehr zurück. Mehr weiche Klangentfaltung bietet Elizabeth Baileys Sopran, der sich auch sehr schön ergänzt mit dem substanzvollen, wohlartikulierten Alt von Marta Herman. Am schönsten klingen die Solisten alle zusammen. Und der Chor verbreitet vor allem die Ruhe gläubiger Geborgenheit.
Mehr Konflikt und Erregung hätten der Szene gut getan. „B.A.C.H.⁶¹“ bleibt zu gemächlich.