Foto: Alexandra Riemann, Julia Blechinger, Gernot Schmidt und Stella Hanheide in "Arthur Aronymus und seine Väter" am Landestheater Detmold © Bettina Stöß
Text:Michael Laages, am 11. März 2023
Kaum jemand kennt dieses Theaterstück, hat womöglich gar eine Aufführung gesehen: „Arthur Aronymus und seine Väter“ war 1932 der zweite Theatertext, den die Lyrikerin Else Lasker-Schüler schrieb; nach dem bekannteren Stück „Die Wupper“. Die geplante erste Inszenierung der „Arthur Aronymus“-Fabel in Berlin kam schon nicht mehr zustande: Der Einfluss des Nationalsozialismus‘ in der Kultur-Bürokratie war bereits enorm. Die erste Chance bekam das Stück der jüdischen Schriftstellerin 1936 am Züricher Schauspielhaus – aber auch dort wurde die Inszenierung von Leopold Lindtberg nur zweimal gespielt – von christlich-jüdischer Konfrontation wollte das Schweizer Publikum nichts wissen. Die Autorin starb 1945 in Jerusalem, unglücklich, verarmt, fast vergessen.
Erst 1969, zu Lasker-Schülers 100. Geburtstag, folgte die nächste (und bis dato letzte) Arbeit am „Arthur Aronymus“ – bei Else Lasker-Schüler daheim in Wuppertal, dass damals noch ein Schauspielhaus hatte. Diese Aufführung sah der junge Theatermann Gerhard Hess – und das Stück hat ihn nie wieder losgelassen. Weil es als „unspielbar“ galt, hat er eine neue Fassung erarbeitet; und die hat er nun selber zur Premiere gebracht: am Landestheater in Detmold. Das große Theater in der kleinen, aber ehedem halt Residenz- und noch bis 1947 Hauptstadt des Landes Lippe ist ein repräsentatives Haus mit knapp 700 Plätzen; es arbeitet in allen Sparten und gilt als das größte Reisetheater nicht nur in Nordrhein-Westfalen.
„Arthur Arnonymus und seine Väter“ ist nun zwar keine „richtige“ Uraufführung, aber immerhin fast. Denn tatsächlich ist das Stück nun „spielbar“ in der Fassung von Gerhard Hess. Der passionierte Theatermann (bewährt als Förderer auch neuerer Dramatik in vielen Jahren als Intendant der reisenden Landesbühne Nord in Wilhelmshaven) hat gut 60 Rollen, 23 Kinder inklusive, auf etwa 20 Spielfiguren verdichtet; aber immer noch werden ein Dutzend Schauspielerinnen und Schauspieler benötigt (Statisterie inklusive), um die verschlungenen Stränge der Fabel abzubilden. Die vor allem hat Hess zu erhalten versucht, wie übrigens auch Else Lasker-Schülers wie aus der Zeit gefallene Sprache.
Suche nach Versöhnung
Als Regisseur versucht Hess, mit diesem ziemlich fremden Ton in weniger als zwei Stunden ein höchst komplexes Historienbild zu entwerfen: von Juden-Pogromen und Hexen-Wahn im Westfalen der Biedermeier-Zeit; dort, wo ja auch der familiäre Lebensweg der Autorin begann. Else Lasker-Schüler schürfte tief in der eigenen Biographie: in Geseke, wo die Eltern lebten, in Erwitte um die Ecke und im tief katholischen Paderborn. Dort rufen zum Ende hin ein jüdischer Gutsbesitzer namens Schüler (Elses Vater) und der örtliche Bischof Frieden aus zwischen Juden- und Christenheit. Ohne Lessings Parabel vom Ring direkt zu bemühen, sucht die Autorin mit fundamentaler Energie die Nähe zum deutschen Aufklärer.
Und klar wird selbstverständlich auch, dass dieses Theaterstück im Berlin kurz vor 1933 nicht mehr gezeigt werden konnte – unüberhörbar waren die warnenden Fragen: Ob denn der Terror aus Judenhass und Hexenverfolgung bald vorbei sein werde, fragt etwa Frau Schüler, Tochter des Ober-Rabbiners der Rheinlande und Mutter der 23 Schüler-Kinder, den Kaplan Bernhard Michalski daheim in Geseke, als die braven Christen vor Ort gerade begonnen haben, jüdische Mädchen öffentlich als Hexen „auszuschreien“ (wie das später in „Hexenjagd“ heißt, der Pogrom-Phantasie von Arthur Miller) und viele wohl tatsächlich schon träumen vom Scheiterhaufen auf dem Marktplatz. Eine der Schüler-Töchter leidet an jener Erbkrankheit, die lange in der Geschichte „Veitstanz“ genannt wurde; vor allem dieses Mädchen ist in Lebensgefahr, als Jüdin und als Hexe.
„Wie eine Wolke“ ziehe das vorüber, antwortet Kaplan Bernhard – Arthur Aronymus, Kind Nummer 17 in der Familie Schüler, ist zum Katalysator geworden für das Bemühen des guten Christenmenschen Bernhard (der im Stück immer wieder „Bernhardchen“ genannt wird). Der Kaplan hat einen Narren gefressen am heranwachsenden Arthur, der sehr pfiffig ist und vielleicht mal Baumeister werden möchte. Der Kleriker würde ihn allerdings auch gern dem Judentum der Familie entreißen … und er küsst das Kind – wie weit das Gefühl hier geht, ist mit Blick auf Missbrauchsfälle heute sehr zweifelhaft; wird aber nicht zum Thema.
Verführung der Vergangenheit
Außer dem überaus freundlichen Kaplan ist auch Bischof Matthias von Paderborn ein echtes Muster der Aufklärung in Lessings Sinn – in seinem Dom finden jüdische Familien Zuflucht bei Pogromen. Er wettert (und lässt Kaplan Bernhardchen wettern) gegen den mörderisch vor Ort grassierenden Hexenwahn, er trifft sich mit der großen Familie Schüler am Seder-Abend zum Pessach-Fest. Vater Schüler hat ihn eingeladen, und von der reich gedeckten Tafel aus richtet sich der Bischof sozusagen „ans Volk“ – und mahnt, dass das mit den Hexenverbrennungen umgehend aufhören müsse. Gut und schlicht gesagt. Und Nachtwächter Altmann sieht da schon die neue, schöne Zeit allgemeiner Versöhnung anbrechen, im regionalen Dialekt; bevor er ins Schofar-Horn tutet – was er sowohl jüdisch als auch katholisch kann. Eine schöne Pointe.
Else Lasker-Schüler wollte dem wachsenden Faschismus wohl tatsächlich noch 1932 derart hoffnungsvoll entgegentreten, ja geradezu naiv – Gerhard Hess will ihr mit der neuen Fassung jenseits solcher Einschätzungen vor allem noch einmal zu eigenem Recht verhelfen. Um das Stück aber noch kenntlicher werden zu lassen für die Gegenwart, müsste sicher auch der hasserfüllte Mob massiver zu Wort kommen – und nicht nur ab und zu (und vom Band) „Jud Jud Hepp Hepp“ rufen. Dem Publikum heute sollte die Verführung zum Pogrom deutlich näher und schmerzhafter auf den Leib rücken. Wie eben tatsächlich in einer Art „Hexenjagd“ nach Arthur Millers Art – denn darum geht’s, über das Versöhnungsmärchen der Else Lasker-Schüler hinaus.