Foto: Gorkis "Sommergäste" auf der Pernerinsel © SF/Monika Rittershaus
Text:Anne Fritsch, am 1. August 2019
Im Grunde ist Warwara von Anfang an tot. In ihrem knallroten Kleid liegt Genija Rykova zu Beginn auf dem Boden. Bewegungslos erst, dann regt sich leicht ihr Bein. Sie lebt. Doch wozu? Das ist die Frage, die sie mehr als alle anderen umtreibt. Diese Frau, gefangen in einer Ehe mit dem Rechtsanwalt Bassow (Primož Pirnat), dem der Alkohol als Sinn genügt. Für die Länge des Sommers zusammengepfercht mit einer Gruppe Menschen, die mal Intellektuelle waren, jetzt aber nur noch „Sommergäste“ im eigenen Land sind. Ärzte, Rechtsanwälte, Schriftsteller – alle beschäftigt damit, „einen bequemen Platz im Leben“ zu finden. Maxim Gorkis Stück „Sommergäste“ wurde 1904 uraufgeführt, ein Jahr vor der russischen Revolution. Gorki hält seinem Publikum einen Spiegel hin, zeigt eine Gesellschaft von Menschen, die es sich (noch) leisten können, nichts zu tun und viel zu reden. Ihre Eheprobleme, ihre Liebesprobleme, ihre Altersprobleme und alle anderen Problemchen werfen sie einander vor die Füße. Was um sie herum geschieht in der Welt, blenden sie aus.
Sie tun, was fast alle Figuren in fast allen russischen Stücken tun: Sie reden über ein Leben, das sie gerne führen würden. Und das mit dem Leben, das sie tatsächlich leben, herzlich wenig gemein hat. Sie sehnen sich nach einem Sinn, einer Beschäftigung, einer Erfüllung. Doch anstatt aufzubrechen, lamentieren sie, verharren im ewig Gleichen. „Ich bin ein Jedermann, das ist mein Lebensplan“, sagt Pjotr (Sascha Nathan) einmal. Und ein Jedermann, das ist in seinen Augen eben einer, der säuft, frisst und fickt. Solange das läuft, ist alles in Ordnung, da soll man ihm doch nicht mit irgendwelchen idealistischen Ideen kommen. Das versucht die Ärztin Marja Luwowna (Marie-Lou Sellem), die die verschütteten geistigen Ressourcen gerne in politische Agitation überführen würde. Vergeblich, denn gegen die lange aufgebauten Schutzwälle aus Resignation und Ignoranz kommt sie ebenso wenig an wie Warwara oder deren Bruder Wlas (Paul Behren).
Evgeny Titov hat das Stück für die Salzburger Festspiele auf der Pernerinsel in Hallein inszeniert. (Er hat diese Regie von der erkrankten Mateja Koležnik übernommen.) Was bei Gorki die russischen Datschen sind, in denen die Sommerfrischler aufeinander treffen, hat Raimund Orfeo Voigt in einen bühnenhimmelhoch getäfelten düsteren Raum übersetzt, der ein wenig wirkt wie ein Anna-Viebrock-Zitat. Der gesamte Raum schiebt sich mal nach rechts, mal nach links, und gibt so unterschiedliche Bereiche der Breitformat-Bühne frei. Unpersönlich und leer wie eine Hotellobby, ein nobler Wartesaal, in der diese Gesellschaft wartet, ohne zu wissen, worauf, und feiert, ohne zu wissen, was. Wie bestellt und nicht abgeholt taumeln sie trunken durch ihre Leben oder das, was sie daraus gemacht haben – beobachtet und analysiert von Warwara und einer Handvoll anderer, die das Gefühl plagt, es müsse doch mehr möglich sein.
Titov neigt zu plakativen Bildern und Posen, kostet seine sorgfältig komponierten Standbilder manches Mal allzu ausgiebig aus. Im Hintergrund platziert er halbnackte Statistinnen und Statisten, die sich wohl im Komasaufen geübt haben, als wäre es nicht so schon trostlos genug. Vor allem zu Beginn tut der Regisseur (und sein Ensemble) sich schwer, zu einem natürlichen Gesprächsverlauf zu finden: Wenn sich alle irgendwie zufällig, aber auch irgendwie verabredet in der Lobby zu einem Champagner-Umtrunk treffen, ist das sehr angestrengt und konstruiert. Es dauert, bis das Spiel ein wenig flüssiger wird, Texte und Figuren allmählich zusammenwachsen und die Texte nicht mehr ganz so aufgesagt wirken. Nur wenigen gelingt das von Anfang an: Dagna Litzenberger Vinet spielt die Julija, die ihren Mann geheiratet hat, weil der „sich interessant gemacht hat“, aber mehr vom Leben will als er. Mehr Leben, mehr Liebe. Sie spielt sie mit einer jugendlichen Frische, die die Verzweiflung darunter nie ganz zu übertönen vermag.
Gorki schildert eine saturierte Gesellschaft, die sich in privaten Problemen ergeht und jeden Blick über den eigenen Beziehungsrand als zu anstrengend empfindet. Die keinen Handlungsbedarf sieht, solange die elementarsten Bedürfnisse gestillt werden. „Mein Leben ist mir peinlich“, sagt Warwara gegen Ende. Rykova findet im Verlauf des Abends immer mehr zu ihrer Figur. Je deutlicher diese die Missstände durchschaut, aus einem vagen Unbehagen zu konkreter Kritik findet, desto klarer wird auch Rykova. Aber: Auch aus ihren Worten erwächst keine Handlung. Bei Gorki verlässt Warwara am Ende ihren Mann, der sich wie die meisten seiner Art in diesem Stück als übler Sexist outet („Sie braucht einen Despoten“). Titov dagegen lässt das Ende offen. Rykova steht fassungslos alleine auf der Bühne neben der Leiche von Pawel (Marko Mandić), der sich aus Verzweiflung erschossen hat. Die Revolution, sie wird hier wohl im Keim erstickt. Das Aufbegehren, hier bleibt es bei der Idee. Beim Gerede, wie alles andere. Vielleicht liegt es daran, dass Titov eine bereits angedachte Arbeit übernahm, jedenfalls wirkt hier vieles unausgegoren und unfertig. Schade. Denn Gorkis Themen sind aktuell, seine Grundfrage eine wichtige: Rückzug ins Private oder politische Agitation?