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Jägersleut im Säulenwald

Carl Maria von Weber: Der Freischütz

Theater:Badisches Staatstheater Karlsruhe, Premiere:13.10.2018Autor(in) der Vorlage:Johannes August ApelRegie:Verena StoiberMusikalische Leitung:Johannes Willig

Verna Stoiber verlegt am Badischen Staatstheater Karlruhe Webers „Freischütz“ aus Böhmens Hain und Flur in den kirchlichen Säulenwald.

„Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen?“ Diese Frage hatte sich offenbar auch die Regisseurin Verena Stoiber gestellt, als sie 2014, damals 34-jährig, zusammen mit der Ausstatterin Sophia Schneider ein „Freischütz“-Konzept beim renommierten Regie-Wettbewerb RING AWARD einreichte – und prompt alle Preise gewann. Die überraschende Antwort, die die beiden gefunden haben, kann man jetzt in voller Opernlänge auf der Bühne des Badischen Staatstheaters Karlsruhe bewundern. In dieser bei der Premiere mit heftigen Buhs, aber auch leidenschaftlichen Bravos überschütteten Inszenierung wird aus dem „Jägervergnügen“ ein Gottesdienst, aus dem deutschen Forst ein gotischer Säulenwald, aus Böhmens Hain und Flur eine optisch effektvolle düstere Kirche – und aus der Wolfsschlucht eine veritable schwarze Messe. Was thematisch ja zunächst Sinn macht: Wo der Glaube repressiv ist, da ist er Aberglaube nicht weit. Und wo das Böse streng vom Guten geschieden wird, da treibt Ersteres im Verborgenen die giftigsten Blüten. Unter diesem Aspekt können Kaspar und Max geradezu verschmelzen: Kaspar ist in Stoibers Deutung das abgespaltene Böse, Maxens Dr. Jekyll gewissermaßen – der es im ersten Akt dann auch gleich mal mit Agathe im Beichtstuhl treibt. Hilf, Samiel!

Das sind so die Gedanken, die sich das Team da gemacht hat. Teils stehen sie im Programmheft und lesen sich dort klug. Aber in Friedrich Kinds Libretto findet sich von alledem natürlich wenig. Und so hat Verena Stoiber dessen vielgeschmähte Dialoge gleich komplett entsorgt und stattdessen Videos von Thiemo Hehl eingefügt, in denen die Sänger ihre Figuren vorstellen und die Handlung kommentieren – am charmantesten vielleicht Agnieszka Tomaszewska als Ännchen: „Diese Sache mit dem Probeschuss, also, ich finde das total bescheuert…“ Klar, wer nicht! Interessanter für die Regie wäre aber die Frage gewesen, warum Weber „diese Sache“ eben doch nicht so „total bescheuert“ fand, dass er sich hätte hindern lassen, eine große Oper darüber zu schreiben. Die Kirchenmetapher, in der Ottokar als eine Art Oberpriester erscheint und Agathe vielleicht als eine etwas überengagierte Gemeindehelferin, trägt wenig zu einer Antwort bei. Im Gegenteil: Es wirkt eher befremdlich, dass Max, Kaspar und die anderen wackeren Waidmänner, ohne die auch Stoiber und Schneider natürlich nicht auskommen, permanent mit ihren Flinten im Gotteshaus herumfuchteln.

Auch die schwarze Wolfssschlucht-Messe ist zwar effektvoll, aber nicht konsequent erzählt. „Hure“ steht hinten auf einem weißen Prospekt, vorn tanzt Agathe auf dem Altar, entledigt sich unter ihrem weißen Messgewand des Slips und legt sich aufreizend auf den Rücken. Eigentlich müsste jetzt die Gemeinde, die hier den Text des Samiel spricht und also das Böse verkörpert, über sie herfallen. Aber so schwarz soll’s dann auch wieder nicht zugehen, da feiern sie doch lieber nur brav das Abendmahl. Und da Kirche hier mit Provinz und Konvention gleichgesetzt wird, ist der im Libretto durchaus unkonventionell angelegte Eremit gleichsam heimatlos. Anfangs kauert er wie ein Penner am Altar. Woher er am Ende die Autorität nimmt, alles zum guten Guten zu wenden, weiß in dieser Inszenierung noch nicht mal der Himmel.

Es ist eben doch mehr als vordergründige Staffage, wenn Weber und Kind ihre Geschichte im Jägerlatein erzählen und sie historisch „kurz nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges“ lokalisieren. Es ist ein blutiges Handwerk, dem die wackeren Burschen nachgehen, die da ihre „fürstliche Freude und männlich Verlangen“ besingen. In einem der von Stoiber gestrichenen Dialoge erinnert Kaspar „an die Scharfschützen, die ihren Mann aus dem dicksten Pulverdampf herausschießen.“ Hier zieht Kind unmittelbar die Linie von Waidmanns Heil zu Krieges Unheil – und die führt ungebrochen bis zur schwarzen Magie der Wolfsschlucht, der allzu leicht verfällt, wer mit diesem Handwerk sein Geld verdient. Man glaubt es kaum — aber gerade hier ist Webers Freischütz hochaktuell, ebenso wie in der Frage nach den demotivierten Riten, nach der atavistischen Tradition des Probeschusses, die ja ebenfalls aus wilden Kriegszeiten verderblich in eine neuen Gegenwart hereinragt und deshalb im Finale der Oper auf dem Abfallberg der Geschichte entsorgt wird. Das alles, was bei Kind und Weber eine zentrale dramaturgische Rolle spielt, lässt sich mit Stoibers und Schneiders Kirche als Metapher für eine traditionalistische Gesellschaft nicht so richtig fassen. Wollte man heute tatsächlich von Schuld und Sünde im kirchlichen Kontext reden, wären bekanntlich ganz andere Dinge zu verhandeln.

Auch Johannes Willig, seit 2011 Erster Kapellmeister am Badischen Staatstheater Karlsruhe, entgeht manches, was am Freischütz hörenswert wäre. Webers Musik klingt bei ihm sehr schlank und fein gearbeitet, manchmal wackelt die Koordination ein bisschen, aber insgesamt wird kultiviert musiziert und gesungen. Der von Ulrich Wagner geleitete Chor agiert klar konturiert, im „Jägerchor“ sogar mit Sinn für die feine vokale Parodie. Willig hält sich an die musikalischen Tatsachen, er vermittelt aber kaum Gefühl für die Abgründe dahinter. In dieser Hinsicht ist er sozusagen ein musikalischer Positivist.

Es ist beachtlich, dass alle Figuren aus dem Ensemble rollendeckend besetzt wurden – dass beispielsweise Ina Schlingensiepen die Agathe sehr ausdrucksvoll singt und dass Matthias Wohlbrechts gebrochenes Timbre durchaus zu der von der Regie behaupteten inneren Zerrissenheit von Max passt. Hier aber passt leider vieles nicht zu Webers Gesangspartien. Schlingensiepens Piano klingt spröde, faserig, Wohlbrechts Forte bleibt eng, angestrengt, Agnieszka Tomaszewska hat für Ännchen nicht die nötige Tiefe, Renatus Meszars Kuno bleibt vor allem knorrig, Armin Kolarczyks Ottokar verlegt sich auf den Stentor-Ton. Die Sänger bieten meist nur ein interpretatorisches Stereotyp ihrer Figur, das hinter der vokalen Finesse der Partie zurückbleibt – wobei Konstantin Gorny als Kaspar dieses Stereotyp immerhin effekt- und klangvoll zur Geltung bringt.

Es bleibt ein merkwürdiges Gefühl zurück: Dieser Abend tickt vieles an, was am „Freischütz“ interessant sein könnte – hinterlässt dabei aber am Ende den merkwürdigen Eindruck, dass die Oper interessanter, kühner, heutiger ist als Stoibers Inszenierung mit ihrer Geschichte aus dem deutschen Gemeindeleben.